Silo: Roman (German Edition)
mit
einem eigenartigen Gesichtsausdruck an. Sein Mund stand halb offen, aber in
seinen Mundwinkeln kräuselte sich ein Lächeln.
»Nein, so
funktioniert das nicht. Was wir hören, stammt aus dem Hier und Jetzt. Wir
hören, was im Moment geschieht!« Er packte Shirlys Arm. »Du hast sie doch auch
gehört, oder? Ich bin nicht verrückt. Das war Juliette, nicht wahr? Sie lebt!
Sie hat es geschafft!«
»Nein!« Shirly
schüttelte den Kopf. »Was redest du da, Walk? Wohin soll sie es geschafft
haben?«
»Du hast es doch
gehört.« Er deutete auf das Funkgerät. »Vorher. Die Gespräche. Über die
Reinigung. Da draußen gibt es noch andere. Mehr von uns. Sie ist drüben bei
denen, Shirly!«
»Sie lebt.«
Shirly starrte auf
das Funkgerät und versuchte, all das zu verarbeiten. Irgendwo war ihre Freundin.
Sie atmete noch. Das Bild von Juliettes Leiche, die in stiller Ruhe hinter dem
Hügel lag und vom Wind zerfressen wurde, war in ihrem Kopf so präsent gewesen.
Und nun sah sie, wie Juliette sich bewegte, atmete, irgendwo in ein Funkgerät
sprach.
»Können wir mit ihr
reden?«
Walker schreckte
auf, seine alten Glieder zuckten.
»Meine Güte, du
liebe Güte, ja!« Mit zitternden Händen – was Shirly aber nun als Aufregung
interpretierte – legte er einige Teile auf den Boden und griff noch einmal in
den Eimer. Er kippte ein paar Werkzeuge aus und wühlte auf dem Boden des
Behälters herum.
»Nein«, sagte er. Er
drehte sich um und besah sich die Teile auf dem Boden. »Nein, nein, nein!«
»Was ist? Was fehlt?
Da, das Mikrofon.« Sie deutete auf das teilweise zerlegte Headset.
»Der Sender, so ein
kleiner Schaltkreis. Ich glaube, er liegt auf meiner Werkbank.«
»Ich habe alles in
den Eimer geworfen.« Ihre Stimme klang schrill und angespannt. Sie ging zu dem
Plastikeimer.
»Auf der anderen
Werkbank. Ich habe den Sender eigentlich nicht gebraucht. Jenkins wollte ja
lediglich die Gespräche von oben abhören.« Er wedelte mit der Hand. »Woher
hätte ich wissen sollen, dass wir auch senden müssen?«
»Das konntest du
nicht wissen.« Shirly legte ihm die Hand auf den Arm. Sie sah ihm an, dass er
kurz davorstand, in eines seiner schwarzen Löcher zu fallen, das hatte sie
schon oft erlebt und wusste, dass er dann so schnell nicht wieder ansprechbar
war. »Gibt es hier etwas, das wir benutzen könnten? Denk nach, Walk,
konzentrier dich!«
Er schüttelte den
Kopf, deutete mit dem Finger auf das Headset. »Das Mikro können wir nicht
benutzen, die Membranen sind winzig …« Er drehte sich zu ihr um. »Warte – hier
müsste es eigentlich einen Sender geben!«
»Hier unten? Wo?«
»Im Lagerraum der
Raffinerie!« Er tat, als würde er etwas in die Luft halten und einen Schalter
drehen. »Für die Sprengkapseln. Ich habe erst vor einem Monat einen der Sender
zur Reparatur gehabt. Das müsste funktionieren.«
Shirly stand auf.
»Ich hole einen«, sagte sie. »Du bleibst hier.«
»Aber das
Treppenhaus …«
»Kein Problem. Ich
gehe ja runter, nicht rauf.«
Er nickte.
»Verstell bloß das
Funkgerät nicht«, sagte sie und deutete auf den Knopf. »Wir suchen jetzt keine
weiteren Stimmen mehr – nur ihre! Lass alles, wie es ist.«
»Natürlich.«
Shirly bückte sich
und drückte seine Schulter. »Bin gleich wieder da.«
Draußen drehten sich
Dutzende Köpfe nach ihr um, mit angstvollen, weit aufgerissenen Augen. Am
liebsten hätte sie über das Summen des Generators hinweg gebrüllt, dass
Juliette lebte, dass sie nicht allein waren, dass es noch andere Menschen gab,
die in der verbotenen Außenwelt lebten und atmeten. Aber dazu hatte sie keine
Zeit. Sie eilte zum Handlauf und traf auf Courtnee.
»Hallo.«
»Alles okay bei euch
da drinnen?«, fragte Courtnee.
»Ja, bestens. Tust
du mir den Gefallen und behältst Walker im Auge?«
Courtnee nickte.
»Wohin willst du …?«
Aber Shirly war
schon weg, sie rannte zur Haupttür. Sie drängte sich durch ein Grüppchen, das
sich am Eingang zusammengekauert hatte. Draußen standen auch Jenkins und
Harper. Die beiden hielten in ihrem Gespräch inne, als sie Shirly vorbeieilen
sahen.
»He!« Jenkins nahm
sie am Arm. »Wohin willst du, was ist los, verdammt?«
»Zur Raffinerie in
den Lagerraum.« Sie riss ihren Arm aus seinem Griff. »Bin gleich wieder …«
»Du gehst nirgendwo
hin. Wir wollen gleich die Treppe sprengen. Diese Idioten laufen uns direkt in
die Falle.«
»Ihr wollt was?«
»Die Treppe«,
wiederholte Harper. »Wir haben die Treppe vermint.
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