Silo: Roman (German Edition)
wenn auch unschuldig, aber die plötzliche
Traurigkeit im Raum ließ sie diese Zeit vergessen.
»Er sollte Nicholas
heißen, wie der Vater meines Vaters. Er war eine Frühgeburt. Knapp 700 Gramm.«
Die klinische
Präzision in seiner Stimme kam Jahns noch trauriger vor, als ein
Gefühlsausbruch es hätte sein können.
»Sie haben noch
intubiert und ihn in den Brutkasten gelegt, aber es gab … Komplikationen.«
Dr. Nichols sah auf seine Hände. »Juliette war damals dreizehn. Sie können sich
ja vorstellen, dass sie genauso aufgeregt war wie wir. Sie hätte einen kleinen
Bruder bekommen. Ein Jahr später sollte sie der Schatten ihrer Mutter werden,
sie war Hebamme.« Nichols sah auf. »Allerdings nicht hier auf der Station,
sondern auf der alten in den mittleren Stockwerken, wo wir beide gearbeitet
haben. Ich war damals noch Assistenzarzt.«
»Und Juliette?«
Jahns verstand den Zusammenhang noch immer nicht.
»Der Inkubator hat
versagt. Als Nicholas …« Der Doktor wandte den Kopf zur Seite und hob die
Hände vor die Augen, riss sich dann aber zusammen. »Tut mir leid. Ich nenne ihn
immer noch so.«
»Schon in Ordnung.«
Jahns hielt
inzwischen Deputy Marnes’ Hand. Sie wusste nicht, wann und wie das passiert
war. Der Doktor schien es nicht zu bemerken, oder, was wahrscheinlicher war, es
war ihm egal.
»Die arme Juliette.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie war völlig fertig. Zuerst hat sie Rhoda die Schuld
gegeben, einer erfahrenen Hebamme, die das reinste Wunder vollbracht hatte, um
unserem Jungen überhaupt eine winzige Chance zu geben. Das habe ich ihr
erklärt. Und ich glaube, Juliette hat es auch verstanden. Sie hatte nur
überhaupt jemandem die Schuld geben müssen.« Er nickte Jahns zu. »Mädchen in
dem Alter, nicht wahr?«
»Ob Sie es glauben
oder nicht, ich erinnere mich noch.« Jahns zwang sich zu einem Lächeln, und Dr.
Nichols lächelte zurück. Sie spürte, wie Marnes ihr die Hand drückte.
»Nachdem ihre Mutter
gestorben war, hat sie dem Inkubator die Schuld gegeben. Also, nicht dem
Inkubator, sondern dem schlechten Zustand, in dem er war. Dem allgemeinen
Zustand aller Dinge.«
»Ihre Frau ist an
den Komplikationen gestorben?« Auch dieses Detail musste Jahns in der Akte
übersehen haben.
»Sie hat sich eine
Woche nach Nicholas’ Tod das Leben genommen.«
Wieder diese
klinische Distanziertheit. Jahns fragte sich, ob diese Art ein
Überlebensmechanismus war, den Nichols nach diesen Ereignissen entwickelt
hatte, oder ob er schon immer so gewesen war.
»Daran müsste ich
mich doch eigentlich erinnern«, sagte Marnes. Es waren seine ersten Worte,
seitdem er sich dem Arzt vorgestellt hatte.
»Nun ja, ich habe
die Urkunde selbst ausgestellt. Da konnte ich als Todesursache eintragen, was
ich wollte.«
»Und das geben Sie
zu?« Marnes schien von der Bank aufspringen zu wollen. Jahns hielt ihn am Arm
fest, damit er sitzen blieb.
»Nach Ablauf der
Verjährungsfrist? Natürlich. Das gebe ich gern zu. Die Lüge war sowieso
nutzlos. Juliette war schlau, auch in dem Alter schon. Sie hat es gewusst. Und
das hat sie ver…« Er unterbrach sich.
»… verrückt
gemacht?«, fragte Mayor Jahns.
»Nein.« Dr. Nichols
schüttelte den Kopf. »Das wollte ich nicht sagen. Es hat sie vertrieben. Sie
hat sich um eine Stelle als Schatten in der Mechanik beworben. Eigentlich war
sie noch ein Jahr zu jung, aber ich habe eingewilligt. Ich dachte, ich lasse
sie gehen, sie lässt sich ein bisschen den Wind um die Nase wehen, und dann
kommt sie zurück. Ich war so naiv. Ich dachte, die Freiheit würde ihr guttun.«
»Und seitdem haben
Sie sie nicht mehr gesehen?«
»Einmal. Bei der
Beerdigung ihrer Mutter, nur ein paar Tage später. Sie kam allein
heraufmarschiert, war bei der Beerdigung, hat mich umarmt und ist dann wieder
zurück. Alles ohne Pause, soweit ich weiß. Ich habe einen Kollegen in der
unteren Säuglingsstation, der mir gelegentlich ein paar Neuigkeiten kabelt.
Juliette ist absolut auf ihre Arbeit fokussiert.«
Nichols lachte.
»Als sie klein war,
habe ich immer nur ihre Mutter in ihr gesehen. Aber jetzt ist sie mehr wie
ich.«
»Wissen Sie
irgendeinen Grund, warum sie für den Posten des Silosheriffs nicht oder nicht
so gut geeignet wäre? Sie wissen, worum es auf dem Posten geht, oder?«
»Ja, ist mir klar.«
Nichols sah Marnes an, sein Blick glitt zu dem kupfernen Abzeichen, das unter
dem schlecht gebundenen Kittel zu sehen war. »Die Polizisten im Silo brauchen
jemanden von oben, der
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