Silo: Roman (German Edition)
ihnen Anweisungen gibt, richtig?«
»Mehr oder weniger«,
sagte Jahns.
»Warum Juliette?«
Marnes räusperte
sich. »Sie hat uns mal bei Ermittlungen geholfen.«
»Jules? Sie war
oben?«
»Nein. Wir waren
unten.«
»Sie hat die
Polizeiarbeit doch gar nicht gelernt.«
»Das haben wir alle
nicht«, sagte Marnes. »Es ist eher ein … politisches Amt. Der Posten eines
Bürgers.«
»Sie wird nicht
wollen.«
»Warum nicht?«,
fragte Jahns.
Nichols zuckte mit
den Achseln. »Das werden Sie schon sehen.« Er stand auf. »Ich hätte gern mehr
Zeit für Sie gehabt, aber ich muss wirklich wieder an die Arbeit.« Er sah zu
der Doppeltür. »Wir haben gleich eine Familie.«
»Verstehe.« Jahns
stand auf und schüttelte ihm die Hand. »Danke, dass wir kommen durften.«
Er lachte. »Hatte
ich denn die Wahl?«
»Natürlich.«
»Wenn ich das
gewusst hätte.«
Er lächelte, und
Jahns verstand, dass er einen Scherz gemacht oder es zumindest versucht hatte.
Als sie über den Flur zurückgingen, um ihre Sachen abzuholen und die Kittel
zurückzugeben, war Jahns längst vollkommen fasziniert von Marnes’ Wahl. Es sah
ihm gar nicht ähnlich, eine Frau von ganz unten auszusuchen. Sie fragte sich,
ob sein Urteilsvermögen womöglich von anderen Faktoren getrübt war? Und
als er ihr die Tür zum großen Wartezimmer aufhielt, fragte sie sich, ob sie
womöglich deshalb bereits jetzt mit seiner Wahl einverstanden war, weil es auch
ihrem eigenen Urteilsvermögen an Klarheit fehlte.
10. KAPITEL
Es
war Mittagessenszeit, aber sie hatten beide keinen richtigen Hunger. Jahns
knabberte im Gehen an einem Getreideriegel und war stolz darauf, »auf der
Treppe zu essen« wie ein Träger. Immer wieder begegneten ihnen diese Männer und
Frauen, und Jahns’ Wertschätzung für ihren Beruf wuchs und wuchs. Sie hatte ein
schlechtes Gewissen, mit so wenig Gepäck treppabwärts unterwegs zu sein,
während die Träger ihre großen Lasten hinauftrugen. Und in was für einer
Geschwindigkeit! Jahns und Marnes pressten sich ans Geländer, als ein Träger
auf dem Weg nach unten an ihnen vorbeistürmte. Sein Schatten, ein fünfzehn-
oder sechzehnjähriges Mädchen, war direkt hinter ihm, beladen mit mehreren
vollgestopften Müllsäcken für die Recyclinganlage. Jahns sah dem Mädchen nach.
Es sprang aus ihrem Sichtfeld, die glatten, muskulösen Beine schienen
meilenweit aus den Shorts zu ragen. Die Bürgermeisterin fühlte sich plötzlich
sehr alt und sehr müde.
Sie und Marnes
verfielen in einen gleichmäßigen Rhythmus, immer hing der nächste Fuß schon
über der nächsten Stufe, sie gaben der Schwerkraft nach, ließen sich auf den
Fuß fallen, die Hand rutschte am Geländer hinunter, der Spazierstock wurde ausgestreckt,
und dann begann derselbe Bewegungsablauf wieder von vorn. Als sie ungefähr
dreißig Stockwerke hinter sich gebracht hatten, beschlichen Jahns die ersten
Zweifel. Was bei Sonnenaufgang wie ein netter Ausflug ausgesehen hatte, schien
ihr jetzt ein ziemlich gewagtes Unterfangen. Jeder Schritt widerstrebte ihr
plötzlich, weil sie wusste, wie schwer es werden würde, später wieder
hinaufzusteigen.
Sie passierten die
obere Kläranlage im zweiunddreißigsten, und Jahns ging auf, dass sie jetzt
Teile des Silos sah, die ihr praktisch unbekannt waren. Es war schon ein ganzes
Leben her, dass sie so tief unten gewesen war, es war peinlich, das zugeben zu
müssen. Es hatte sich einiges verändert. Dinge waren neu gebaut oder repariert
worden, die Wände hatten eine andere Farbe als die, an die sie sich erinnerte.
Wobei man der eigenen Erinnerung ohnehin nur bedingt trauen konnte.
Der Verkehr auf der
Treppe wurde weniger, je näher sie an die IT-Stockwerke kamen. Es waren die am dünnsten besiedelten Stockwerke des
Silos, wo weniger als zwei Dutzend Männer und Frauen – vor allem Männer – in
ihrem eigenen kleinen Königreich arbeiteten. Die Server des Silos benötigten
fast ein ganzes Stockwerk und wurden nach und nach mit der jüngsten Geschichte
gefüllt, nachdem beim Aufstand sämtliche Daten gelöscht worden waren. Der
Zugang war jetzt streng kontrolliert, und als Jahns auf dem Treppenabsatz des
dreiunddreißigsten kurz stehen blieb, hätte sie schwören können, das Brummen
der Elektrizität zu hören, die hier in Massen verbraucht wurde. Was auch immer
der Silo früher gewesen oder wofür er gebaut worden war, sie wusste intuitiv,
dass diese eigenartigen Rechenmaschinen ein lebenswichtiges Organ waren. Der
Stromverbrauch der IT
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