Silo: Roman (German Edition)
ungetragener Sheriffstern. Auf einem
Aktenorder stand eine Feldflasche, gesichert in einer wiederverwendbaren
durchsichtigen Beweismitteltüte aus Plastik. Ein paar Zahlen, mit schwarzer
Tinte auf die Tüte geschrieben, waren durchgestrichen – Notizen zu längst
gelösten oder nicht weiterverfolgten Fällen. Eine einzige Zahl war neu, ein
Aktenzeichen, das auf Unterlagen verwies, die Juliette nicht bei sich im Büro
hatte, ein Ordner voller Zeugenaussagen und seitenlanger Indizien, die den Tod
des Mayors betrafen. Alle hatten diese Bürgermeisterin geliebt, und trotzdem
hatte irgendjemand sie umgebracht.
Einige der Notizen
in dieser Akte hatte Juliette gesehen, allerdings nur aus der Ferne. Sie
stammten allesamt von Deputy Marnes, der den Ordner in seiner Verzweiflung
keine Sekunde aus der Hand geben wollte. Juliette hatte von der anderen Seite
des Schreibtischs auf die dicht beschriebenen Seiten geschielt und die Tropfen
gesehen, die das eine oder andere Wort verschmiert hatten und das Papier in
Wellen legten. Die Schrift zwischen den getrockneten Tränen war schlampig,
nicht so ordentlich wie Marnes’ Notizen in den anderen Akten. Sein Gekritzel kroch
zornig über die Seite, die Wörter waren wild durchgestrichen und mehrmals
überschrieben. Und diese kochende Wut legte Marnes nun ständig an den Tag,
weshalb Juliette schließlich ihren Schreibtisch verlassen und zum Arbeiten in
die Arrestzelle gegangen war. Sie konnte unmöglich einer derart gebrochenen
Seele gegenübersitzen und dabei einen klaren Gedanken fassen.
In der Arrestzelle
verbrachte sie die Zeit zwischen den knisternden Funkrufen und den Ausflügen
nach unten, wo sie wegen irgendeiner Störung gebraucht wurde. Oft saß sie
einfach nur da, besah sich die Ödnis der Außenwelt oder ordnete wieder und
wieder die Akten nach der mutmaßlichen Schwere des jeweiligen Vergehens. Sie
war Sheriff des ganzen Silos. Sie hatte diesen Beruf nicht als Schatten erlernt,
aber ihr wurde allmählich klar, was ihre Aufgaben waren. Eines der letzten
Dinge, die Jahns zu ihr gesagt hatte, erwies sich nun als größere Wahrheit, als
Juliette sich das jemals hätte vorstellen können: Menschen waren wie Maschinen.
Sie gingen kaputt, sie lärmten, und wenn man nicht vorsichtig war, dann konnten
sie zur Gefahr werden. Juliettes Aufgabe bestand nicht nur darin, dass sie
herausfinden musste, warum etwas geschehen war und wer von Fall zu Fall die
Schuld trug, sondern sie musste auch die Zeichen erkennen, bevor etwas
passierte. Als Sheriff musste man genau wie als Mechaniker insbesondere eines
beherrschen: die Kunst der präventiven Instandhaltung.
Als Vorbereitung auf
ihr Amt hatte sie den Gesetzesteil des Silovertrags gelesen. Sie hatte in ihrem
Bett ganz unten in der Mechanik gelegen, körperlich erschöpft von der Arbeit – der Justierung des Hauptgenerators –, und hatte sich mit den Regeln der
Aktenablage befasst oder mit den allgemeinen Gefahren der Beweisvernichtung.
Alles war logisch und entsprach irgendeinem Bereich ihrer Arbeit als
Mechanikerin. Wenn sie an einen Tatort kam oder zu einem Streit gerufen wurde,
war das auch nichts anderes, als wenn sie vorher in die Pumpenhalle gekommen
und dort etwas kaputtgegangen war. Irgendetwas oder irgendjemand hatte immer
eine Macke. Juliette konnte zuhören, beobachten, konnte all jene befragen, die
möglicherweise etwas mit dem defekten Gerät oder mit dem passenden Werkzeug zu
tun hatten. Und dann ging sie der Sache anhand der Ereigniskette auf den Grund.
Immer gab es Störvariabeln, nie konnte man ein einzelnes Rädchen neu
einstellen, ohne dass etwas anderes aus dem Takt geriet. Zum Glück war Juliette
mit einer besonderen Gabe gesegnet: Sie wusste immer sofort, was wichtig war
und was sich ignorieren ließ.
Sie vermutete, dass
Marnes diese Fähigkeit damals in ihr gesehen hatte – diese Geduld und diese
Skepsis, mit der sie so lange ihre Fragen stellte, bis sie schließlich über die
richtige Antwort stolperte. Dass sie Marnes früher einmal geholfen hatte, einen
Fall zu lösen, gab ihrem Selbstvertrauen Auftrieb. Sie war sich dessen damals
nicht bewusst gewesen, es war ihr eher um die Gerechtigkeit als solche und um
ihre private Trauer gegangen, aber der Fall war für sie Praktikum und
Vorstellungsgespräch in einem gewesen.
Sie nahm die Akte zu
dem damaligen Fall zur Hand. Ein blassroter Stempel auf dem Umschlag verkündete
in fetten Druckbuchstaben: »Akte geschlossen«. Sie zog das Klebeband ab, das
die Ränder
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