Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
Jäggi mit Blick auf das nackte Mädchen im Schnee, ohne dass er seine Pfeife, die still vor sich hin qualmte, aus dem Mund nahm.
»Hä?« Völliges Unverständnis bei Plotek und Vinzi. Auch die Lehrer hatten offensichtlich Schwierigkeiten, Jäggi zu folgen. Die Mädchen schnieften noch immer.
»Das ist die fünfte Tote in einem Jahr. Alles Selbstmorde.«
»Aber warum zieht die sich dann nackt aus?«, wollte Vinzi wissen. Was Linard Jäggi bereits als Zweifel an seiner polizeilichen Kompetenz zu werten schien. Ein Blick wie ein Dolchstoß. Und dann lapidar: »Die Kleider liegen hier bestimmt irgendwo im Schnee herum.«
»Was?«
»War bei den anderen auch so.«
»Moment mal. Soll das etwa heißen, die zieht sich aus, um sich dann in den Schnee zu legen und zu sterben?«
»Exakt.«
Ungläubiges Kopfschütteln der beiden nun immer blasser wirkenden Lehrer.
»Ist doch komisch«, sagte Vinzi, wie man sagt: »So ein Blödsinn!«
»Vielleicht.« Für Jäggi schien das nicht relevant zu sein.
»Und das wundert Sie nicht?«, hakte Vinzi nach.
»Nein, wahrlich nicht.« Jäggi war sich offenbar sicher. »Keine Ahnung, was in ihren kranken Hirnen so vor sich geht.« Er warf einen abfälligen Blick auf die Schulklasse.
Da stimmt doch was nicht, dachte Plotek.
»Da stimmt doch was nicht«, sagte Vinzi für alle Ohren gut hörbar.
»Das werden Sie gerade wissen, hä?« Jäggis Gesichtsausdruck sah jetzt so aus, als ob sich Vinzi gleich warm anziehen müsste. »Dass sich diese lebensmüden Jugendlichen gerade unsere schöne Heimat aussuchen, um ins Gras zu beißen und mit ihrem Tod unsere Idylle zu beschmutzen – das verstehe, wer will. Ich nicht!«
Er sprach das Ausrufezeichen gleich mit und machte sich hernach an der Leiche zu schaffen. Seine Pfeife hing die ganze Zeit über im Mundwinkel, als wäre sie ein Teil seines Körpers.
»Müssen Sie nicht den Fundort sichern?«, fragte Vinzi. »Kriminalpolizei und alles.«
»Ach was, was soll die denn feststellen, hä?« Jäggi versuchte, die Tote auf den Schlitten an seinem Moped zu hieven.
»Moment mal, wir sind doch in der Schweiz und nicht im afrikanischen Busch, oder?« Vinzi meinte es wohl mehr rhetorisch als ernst.
»Ich glaube schon.« Zumindest Plotek war davon überzeugt.
Linard Jäggi unterbrach die Bergung der Toten und sagte : »Die Leiche wird jetzt erst mal in der Kirche verwahrt.« Er zeigte vom Fundort hinüber nach Sils Maria, wo die Kirchturmspitze zu sehen war. »Das war bei den anderen auch so!« Er versuchte erneut, das tote Mädchen auf den Schlitten zu heben. »Ich kann sie ja schlecht hier liegen lassen, oder?« Irgendwie rutschte sie immer wieder herunter. »Dann sieht man weiter.«
Jetzt glaubte Plotek sich in einem schlechten Film mit Jäggi als Knallcharge. Also weniger Fellini, mehr Vilsmaier.
»Himmelherrgott! Na, jetzt machen Sie schon, packen Sie mal mit an.« Jäggi war bemüht, seiner Rolle gerecht zu werden.
Plotek packte an. Zusammen mit Linard Jäggi und einem der Lehrer hob er die stocksteife Leiche auf den Schlitten. Jäggi warf eine Baumwolldecke darüber und gurtete die Leiche fest. Er startete die Lambretta und tuckerte los. Dabei hing ein Bein der Toten herab und schleifte im Schnee hinter dem Schlitten her.
»Ich weiß nicht, ob der das darf«, sagte einer der Lehrer tonlos.
»Umso beeindruckender ist es, dass der das einfach macht!«, entgegnete Vinzi.
»Und das im Land der Volksabstimmungsweltmeister«, ergänzte Plotek.
Jäggi fuhr davon, ungläubig beobachtet von fünfzehn trauernden Mädchen, zwei konsternierten Lehrern sowie Vinzi und Plotek, die synchron die Köpfe schüttelten. Plotek fragte sich, ob das die bittere Schweizer Realität war. Oder ob sie womöglich Teil eines üblen Scherzes geworden waren. Gab es in der Schweiz etwa auch Verstehen Sie Spaß? War Kurt Felix von den Toten zurück?
4
Offenbar hatte Ploteks und Vinzis Intervention den Dorfpolizisten doch noch dazu veranlasst, die Kripo aus Chur, der Hauptstadt des Kantons Graubünden, zu verständigen. Die kam dann am frühen Abend gemächlich nach Sils Maria hochgefahren. Hektik, Eile, hysterische Betriebsamkeit schienen Fremdwörter für die Schweizer Exekutive, in Gestalt einer jungen Kriminalbeamtin mit dem wohlklingenden Namen Vera Frischknecht, zu sein. Kriminalhauptkommissarin Frischknecht sah gar nicht aus wie eine Kriminalbeamtin. Zumindest nicht so, wie sich das Plotek vorgestellt hatte. Sie trug keine schlecht sitzende Cordhose und
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