Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
hatte offenbar ins Schwarze getroffen. Jäggis Blick verdüsterte sich. Der Specht verstummte.
»Das geht dich nichts an!«
Da ging das Allgemeine plötzlich ins Persönliche über. Da lag Zoff in der Luft.
»Du bist auch nicht ganz unschuldig, mit deinen Aktivitäten«, legte Jäggi nach. Was wiederum bei Beat offenbar ein ungutes Gefühl hinterließ. Seine Selbstsicherheit schwand.
Welche Aktivitäten?, fragte sich Plotek.
»Aua!!!«, schrie Agatha plötzlich auf. Das Kind hatte ihr in die Hand gebissen. Die Augen nicht mehr bedeckt, starrte es jetzt auf den Toten im Schnee und lachte. Die Folge: Der Streit zwischen Beat und Jäggi war beendet. Dafür blutete die Hand von Agatha. Sie reichte das Kind ihrem Freund, der es in die Luft hob und ermahnte: »Du sollst deine Mutter nicht beißen!«
Jetzt erst bemerkte Plotek, dass an Agathas beiden Händen mehrere Pflaster klebten. Er machte einen Schritt zur Seite. Aus Angst vor dem bissigen Kind. Agatha warf Plotek einen Blick zu, angestrengt lächelnd, als wollte sie sagen: »Halb so schlimm, die tut nichts, die will nur spielen.«
Das Kind schien widersprechen zu wollen und sah ebenfalls zu Plotek. Es zeigte dabei seine kleinen, spitzen Zähne.
»Ganz die Mutter«, drang wie nebenbei aus dem Mund von Jäggi an seiner Pfeife vorbei.
Noch ehe die Mutter protestieren konnte, hupte es am Straßenrand. Die Kripo aus Chur war am Fundort eingetroffen. Schneller als gedacht. Die Hauptkommissarin Vera Frischknecht sah wieder so elegant und herausgeputzt aus, als wäre dies das Filmset einer Vorabendkrimifolge. »Und bitte!«
Der Tatort wurde gesichert. Dabei schien alles genauso zu sein wie bei dem toten Mädchen am gestrigen Tag. Und doch gab es einen kleinen Unterschied. Nachdem die Leiche des Elvis-Imitators gänzlich vom Schnee befreit worden war, konnten keine Kleider gefunden werden. Der ganze Wald wurde durchkämmt. Keine Klamotten. Nirgends.
»Der ist doch nicht aus dem Hotel nackt zum Sterben hier hochgelaufen, oder?«, fragte die Kriminalkommissarin, mehr rhetorisch als ernst gemeint.
»Unwahrscheinlich.« Sie beantwortete die Frage gleich selbst. Mehr ernst als rhetorisch.
Wurden eben Spürhunde eingesetzt. Aber nichts. Wobei das auch nicht ganz stimmte.
Man fand doch noch etwas im Wald, was da eigentlich nicht hingehörte. Sogar allerhand: ein Pornoheft, einen defekten Toaster, eine Herrenunterhose der Größe XXL , angeschissen, eine Biografie von Helmut Kohls Sohn mit dem Titel Leben oder gelebt werden, mehrere gebrauchte Kondome, eine Mikrowelle, darin eine DVD von Bernd Eichingers Der Untergang , und ein kaputtes Kinderfahrrad. Auch eine Spieluhr aus Plastik wurde ganz in der Nähe der Leiche gefunden. Wenn man sie an dem Bändel aufzog, gab sie eine Melodie von sich. Schubert, Wiegenlied .
»Schön«, sagte Plotek.
»Schön«, sagte auch Vinzi, nachdem die Hauptkommissarin am Abend im Wang Tong 23 an der Schnur gezogen hatte.
»Damit das Sterben vielleicht leichterfällt.«
Sie hörten andächtig der Spieluhr zu. Vinzi sang sogar dazu, leise und wie für sich.
»Schlafe, schlafe, holder süßer Knabe / Leise wiegt dich deiner Mutter Hand / Sanfte Ruhe, milde Labe / Bringt dir schwebend dieses Wiegenband / Schlafe, schlafe in dem süßen Grabe / Noch beschützt dich deiner Mutter Arm / Alle Wünsche, alle Habe / Fasst sie liebend, alle liebewarm …«
Die Hauptkommissarin applaudierte. »Alle Achtung, Sie können ja richtig gut singen.«
»Ostalbschwäbische Sängerknaben«, sagte Vinzi. »Früher. Das ist lange vorbei und längst begraben.«
»Vielleicht sollten Sie sich auch beim Elvis-Contest bewerben.«
»Mit Schubert?«, sagte Vinzi. »Das könnte Ihnen so gefallen, was?«
Vera Frischknecht lachte herzhaft und sah sich dabei den Bändel der Spieluhr, die sie noch immer in der Hand hielt, etwas genauer an. Dann sagte sie, in sehr ernstem Tonfall, als ginge es auf einmal um Leben und Tod: »Komisch ist, dass der Tote auffällige rote Flecken am Hals hatte.«
Von der Schnur vielleicht, dachte Plotek und blickte ebenfalls darauf.
»Na ja, die Gerichtsmedizin wird sicher herausfinden, woher die stammen.«
Sie legte die Spieluhr zur Seite und bestellte bei Frau Pan ein vietnamesisches Reisgericht. Dann fragte sie Plotek: »Sagen Sie mal, ist Ihnen auch aufgefallen, dass der tote Elvis-Imitator seltsam gerochen hat?«
Klar war das Plotek aufgefallen. Plotek ist ein olfaktorischer Mensch. Für Gerüche ist er immer zu haben. Nach
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