Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
Gestammel, nichts.
»Da ist nichts mehr«, sagte Plotek verwundert.
»Stimmt.«
»Sollen wir umkehren?«
Noch bevor sie sich dazu entschließen konnten, war plötzlich erneut etwas zu hören. Dieses Mal war es aber kein Geschrei. Auch nicht dumpf, wie von einer Hand erstickt. Es erklang hingegen Musik. Eine Melodie. Die Melodie von einer Spieluhr.
»Schubert.«
» Wiegenlied .«
»Schlaf, holder Knabe.«
Vinzi sah aus, als dächte er dasselbe. Langsam folgten sie mit weit aufgerissenen Augen und vorgestreckten Armen der Melodie. Vom Erdgeschoss tasteten sie sich die Betontreppe hinauf in den ersten Stock. Es roch jetzt noch stärker nach Zement und den feuchten Wänden des Rohbaus. Ein Geruch, der Plotek behagte. Es hatte etwas ihm Vertrautes. Den Baustellengeruch hatte er schon immer gemocht. Jetzt auch. Als sie im ersten Stock ankamen, verstummte die Melodie plötzlich.
»Tot?«
»Tot.«
»Verflucht.«
»Ja.«
Ein dumpfer Knall war zu hören. Dann Schritte, eine Tür. Plotek und Vinzi tasteten sich vorsichtig an eine der ausgesparten Fensteröffnungen heran und sahen hinaus in die Nacht. Sie sahen …
»Da!« Plotek zeigte mit der Hand hinaus in die Dunkelheit.
Vor dem Bauzaun tauchte eine Gestalt auf. Nur ganz kurz, dann verschwand sie ebenso schnell in Richtung Tennisplatz. Kaum noch zu sehen.
»Wie ein Geist.«
»Andrea Robbi.«
»Würde jetzt Frau Pan sagen.« Plotek dachte nach. »Frau Pan?«
»Sah fast so aus, nur größer.«
Aber aus einer gewissen Entfernung täuscht vieles. Die Person war verschwunden. Plotek und Vinzi stiegen noch ein Stockwerk höher. Auch da war von einem Menschen, gar einer Leiche keine Spur.
»Verdammt.«
»Ja.«
Dabei waren beide auch ein wenig erleichtert.
»Ich denke, das ist ein Fall für die fesche Frau Frischknecht«, sagte Vinzi.
»Die wird sich freuen.«
»Bestimmt.«
Als sie zurück im Hotel Zentral waren, schlug die Kirchturmuhr einmal. An der Rezeption stand Frau Pan lächelnd und sich verbeugend, als hätte sie auf die beiden gewartet und als wäre es nicht mitten in der Nacht, sondern mittags und sie putzmunter und quietschfidel. Die Hauptkommissarin lag schon im Bett. Zuerst versuchten Plotek und Vinzi, sie mit dem Haustelefon in ihrer Nachtruhe zu stören. Als das misslang, griffen sie zu einem drastischeren Mittel. Nachdem sie eine Zeit lang und immer kräftiger an der Zimmertür der Hauptkommissarin geklopft hatten, ging diese schließlich einen Spalt weit auf. Verstrubbelte Haare, verschlafene Augen, ein zerknautschtes Antlitz und ein Gesichtsausdruck, der nichts Gutes erwarten ließ, erschienen im Spalt.
»Ich hoffe, Sie haben einen triftigen Grund, mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu reißen!« Die Stimme hörte sich wenig kooperativ an. »Denn wenn nicht, müssen Sie sich warm anziehen, meine Herren!« Kein bisschen verständnisvoll oder versöhnlich. Eher zu allem entschlossen.
»Also, was gibt’s?!«
Eingeschüchtert von dieser unbekannten resoluten Art der Hauptkommissarin überlegte Plotek nicht lange und sagte fast lautlos, aber umso eindringlicher: »Wir haben einen weiteren Elvis-Toten!«
Vinzi schaute erstaunt. Denn von einem Toten war nun wahrlich nichts zu sehen gewesen. Und auch Vera Frischknecht schien durch diesen Vorstoß Ploteks überrumpelt. Sie schwieg auffällig lange, noch immer im Türspalt stehend. Wobei sie ansehnlich auf ihrer Unterlippe herumbiss. Plotek hatte nun Gelegenheit, die Hauptkommissarin näher zu betrachten. Sie trug ein schlabberiges und ausgewaschenes T-Shirt, das bis zu den Knien reichte und auf dem Bullen sind blöd stand. Daneben war ein Schwein abgebildet. Der Stoff wölbte sich beim Schwein und den Bullen extrem. Die Frischknecht war barfuß und hatte rot lackierte Fußnägel. Als Plotek schon mit dem Schwein auf dem T-Shirt zu flirten anfangen wollte, sagte die Hauptkommissarin: »Einen Moment, warten Sie im Wang Tong 23 . Ich komme gleich!«
Schon war der Flirt beendet und die Türe geschlossen.
Im chinesischen Restaurant saßen sie dann keine fünf Minuten – Vinzi vor einem Bier und Plotek vor einem stillen Wasser –, da tauchte Frau Frischknecht völlig verändert an ihrem Tisch auf. Sie war perfekt geschminkt, hatte hochgesteckte, noch feuchte Haare und trug ein körperbetonendes Businesskostüm. Sie roch frisch wie der von Tau bedeckte Morgen. Obgleich es mitten in der Nacht war. Sie bestellte sich bei Frau Pan einen Jasmintee, schwieg , bis dieser vor ihr stand, und sagte
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