Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
dann, während sie die Teetasse mit beiden Handflächen umschloss: »Schießen Sie los!«
Das Lokal war fast leer. An einem der Tische saß Douglas McCarther und blätterte müde, den Kopf auf seinen Arm gestützt, in einem Ordner. An zwei weiteren saßen ein paar Elvis-Imitatoren und ließen sich mit chinesischem Bier volllaufen.
Vinzi begann die Ereignisse auf der Baustelle etwas dramatischer, als es in Wirklichkeit gewesen war, zu schildern. Soll heißen: Aus dem dumpfen Geschrei wurde ein lautes »Hilfe! Hilfe!«-Ersuchen. Die Hauptkommissarin hörte aufmerksam zu und fragte schließlich: »Wie wollen Sie eigentlich wissen, dass es sich beim Opfer um einen Elvis-Imitator handelt?«
»Die Spieluhr!«, sagte Plotek. Und dann: »Nachdem die Schreie …«
»Hilfeschreie«, ergänzte Vinzi, Betonung auf Hilfe .
»Nachdem die Hilfeschreie verklungen waren, war eine Melodie zu hören.«
»Schubert?«, fragte Frau Frischknecht.
Vinzi und Plotek nickten.
» Wiegenlied? «
Während Plotek den Kopf zum Takt bewegte, sang Vinzi: »Schlafe, schlafe, holder süßer Knabe …«
So lange, bis die Hauptkommissarin »Ist gut jetzt« sagte. Hörten sie eben wieder auf.
»Und die Leiche?«, wollte Frau Frischknecht wissen. »Was ist mit der Leiche?«
»War nicht zu finden.«
»Und die Spieluhr?«
»Auch nicht.«
»Die Baustelle ist völlig dunkel«, schob Vinzi zur Erklärung nach.
Wieder entstand eine längere Pause, in der Vera Frischknecht an ihrem Tee nippte und einen roten Lippenstiftabdruck auf der Tasse hinterließ, Vinzi kräftig vom Bier trank und Plotek weniger kräftig vom stillen Wasser.
»Und was soll ich jetzt unternehmen?«, fragte die Hauptkommissarin nach reichlicher Bedenkzeit, als wüsste sie es nicht ganz genau.
»Den Tatort sichern.«
»Die Baustelle?«, fragte sie, wie man fragt: »Die Eidgenossenschaft?«
»Exakt.«
»Sie meinen, damit die Leiche nicht verloren geht bis morgen früh, was?« Sie hausierte mit Ironie.
»Ja.« Das schien Vinzi aber nicht zu beeindrucken.
»Falls sie überhaupt existiert.«
»Genau.«
»Und die Spieluhr.«
Synchrones Nicken von Plotek und Vinzi, wobei langsam doch der Eindruck entstand, die Hauptkommissarin mache sich über sie lustig.
»Okay. Das kostet mich zwar den Rest der Nacht, aber wenn es was bringt …« Der Zweifel sprach mit. Sie stand auf, blieb aber am Tisch stehen.
»Ach so: Wenn nicht, werde ich mir noch etwas einfallen lassen, wie ich mich für die um den Schlaf gebrachten Stunden revanchieren kann, klar?«
»Klar.«
Sie griff nach ihrem Mobiltelefon und rief in der Nähe des Tresens, für Plotek und Vinzi dennoch gut hörbar, Linard Jäggi an. Der war, wie es schien, wenig begeistert von der Idee, den Tatort auf der Stelle zu sichern und dafür zu sorgen, dass die Bauarbeiter nicht noch weitere Betonmauern hochzogen. Vermutlich war er in Gedanken schon bei seinem Schwulengangbang.
»Nein, das hat nicht bis morgen früh Zeit!«, brüllte sie in ihr Mobiltelefon.
»Ich fass es nicht!«, war das Erste, was aus dem Mund von Vera Frischknecht kam, als sie am nächsten Morgen am Tatort auftauchte. Plotek und Vinzi waren schon da. Linard Jäggi kam gerade dazu.
Auf der Baustelle wurde, als wäre nichts Außerordentliches vorgefallen, munter weitergewerkelt und vor sich hin betoniert. Die angenehmen Temperaturen weit über null Grad schienen die Arbeitswut der Bauarbeiter nur noch zu steigern. Ob es nun an der Entschlossenheit der Bauleitung lag oder doch eher an der Nachlässigkeit von Jäggi, dass die Anweisung der Hauptkommissarin nicht befolgt worden war, war nicht ganz klar. Womöglich an beidem. Der Dorfpolizist machte auf jeden Fall den Eindruck, als wäre ihm der plötzlich, sozusagen über Nacht entstandene Eifer der Hauptkommissarin nicht nur unerklärlich und äußerst suspekt. Er schien auch gewillt zu sein, ebendiesen Eifer zu torpedieren.
Da hatte er aber die Rechnung ohne die junge Hauptkommissarin gemacht. Die freundliche, gut aussehende Polizistin wurde nun zur hässlichen, schreienden Furie. Folge: Linard Jäggi wurde in aller Öffentlichkeit, unter den Blicken der Bauarbeiter und von Plotek und Vinzi, zusammengefaltet wie ein zehnjähriger Pennäler, der von der strengen Lehrerin erwischt wurde, wie er die Tafel mit lauter Schwänzen vollgemalt und darunter Frau Frischknecht ist schwul geschrieben hatte. Zuerst versuchte sich Jäggi noch zu verteidigen. Er schob es auf die Bauarbeiter, die Bauleitung und alles. Damit
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