Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
umlagert, als erwarteten die Menschen nicht die Aufklärung eines Verbrechens, sondern eine Marienerscheinung mit ans chließendem Kollektivsegen. Auf dass die Blinden wieder sehend werden, die Lahmen laufend und den Beinamputierten die Gliedmaßen wieder wuchsen. Da konnte selbst das nahe gelegene Nietzschehaus nichts gegen ausrichten. Angesichts dieser wundergläubigen Massen würde Nietzsche den Kopf schütteln.
»Dieser Finne kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, sagte Vinzi, als die Spurensicherer nach längerer Suche noch immer auf keine Leiche gestoßen waren.
Schließlich brachen sie entnervt die Suche ab.
»Verdammt!« Vinzi spürte vermutlich den heißen, rächenden Atem der feschen Frischknecht schon im Nacken und wiederholte ein weiteres Mal, noch frustrierter: »Der kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!«
»In Luft vielleicht nicht, aber …« Plotek unterbrach sich selbst, dachte nach und kräuselte dabei die Stirn, was aussehen musste, als schlängelten sich Schnürsenkel darauf entlang.
»In Luft nicht, aber in …« Er wagte nicht, es auszusprechen.
»Na, wo dann?«
»Beton!«, fiel Plotek aus dem Mund wie ein klebriges Kaubonbon.
Vinzi sah Plotek an, als wäre er die Maria, die zu erwartende Erscheinung. Währenddessen erinnerte sich Plotek an die Vergangenheit. An Altötting. Den Wallfahrtsort in Bayern, wo er vor ein paar Jahren einmal den Jesus in den Passionsspielen gespielt hatte. Damals war ein Ermordeter auf einer Baustelle zwischen den Schalungstafeln einbetoniert worden. Dort nur durch einen blöden Zufall entdeckt. Plotek kam das Ganze hier wie ein Déjà-vu-Erlebnis vor. Eines der ganz üblen Sorte. Das gibt es oft. Da holt dann die Vergangenheit die Gegenwart ein, wie mit dem Finger auf der Repeat-Taste der Geschichte hängen geblieben.
»Das ist die einzige Möglichkeit.« Plotek war davon überzeugt. Vinzi offenbar ganz und gar nicht. Er sah Plotek an, als hätte der nicht mehr alle Tassen im Schrank. Oder vielmehr zwischen den Schalungstafeln seiner Hemisphären.
»Wir müssen die Hauptkommissarin davon überzeugen.« Plotek ließ nicht locker und entwickelte plötzlich einen ungekannten Eifer.
»Wovon?«
»Dass sie die Betonmauern auseinanderklopft.«
»Was?« Vinzi tippte sich an die Stirn. »Das macht die nie!«
»Und wenn wir ihr sagen, dass wir gesehen haben, wie das Opfer zwischen die Schalungstafeln …«
»Das haben wir aber nicht.« Vinzi ging resolut dazwischen. »Das vermutest du doch nur.«
»Sehr witzig«, kam von Plotek. »Wenn wir sagen, dass wir es nur vermuten, unternimmt die doch nichts.«
»Du meinst also, wir sollten sie einfach anlügen?«
»Hmm.«
»Gefährliches Spiel«, befand Vinzi.
Das fand auch Vera Frischknecht, als die beiden sie nicht viel später damit konfrontierten.
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«, war das Erste, was sie erwiderte.
Plotek nickte, Vinzi auch und fügte hinzu: »Sehen wir aus, als würden wir scherzen?«
Nun, darüber schien sich die Hauptkommissarin nicht ganz im Klaren zu sein.
»Mal ehrlich, das ist doch ein Trick, oder?«
Kopfschütteln von Plotek und Vinzi.
»Okay, wir nehmen jetzt Ihre Aussage zu Protokoll. Sie unterschreiben das und alles, ja? Wenn es nicht stimmt, wenn wir kein Opfer zwischen den Schalungstafeln finden, keine Leiche, keinen Toten, sind Sie dran, klar? Falschaussage, Behinderungen der Ermittlungen, Irreführung und, und, und. Verstehen Sie? Das wird teuer. So ein Einsatz kostet richtig Geld.«
»Und wenn er drinliegt?«, fragte Plotek.
»Tja, dann bin ich die Heldin«, sagte die Hauptkommissarin und lächelte. »Ich weiß, das ist ungerecht, gemein. Ich weiß, ich weiß.« Es klang kokettierend. »Wie so manches im Leben, das Leben selbst, der Tod und alles.«
Bla, bla, bla, dachte Plotek. Vinzi dachte vermutlich: Aus diesem Mund klingt selbst das Blablabla erotisch wie in Worte gefasste Spitzenunterwäsche.
»Also, was ist? Wollen Sie es sich vielleicht nochmals überlegen?«
Plotek schüttelte den Kopf, und Vinzi sagte: »Packen Sie den Schlagbohrer aus.«
Ein Schlagbohrer reichte nicht. Es gab ziemlich viele betonierte Mauern im Anbau der Edelrose . Die Aktion war nicht unumstritten. Die Spurensicherer schüttelten den Kopf. Die Bauarbeiter lachten. Die Bauleitung drohte mit Konsequenzen wegen der Bauverzögerung, und Linard Jäggi, noch immer nicht erholt von der Demütigung durch die Hauptkommissarin, stichelte hinter vorgehaltener Hand, die Frischknecht
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