Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
sehe es!« Vinzi klang genervt. »Hier ist überall Natur, Wald, Wiesen, hier gibt es Rehe wie Sand am Meer.«
Plotek folgte mit dem Rollstuhl den Spuren. Vinzi protestierte: »He, das ist doch Quatsch. Wie soll denn unser Reh …«
»Da!«
Die Rehspuren gingen in Schuhspuren über.
»Komisch.«
Die Spuren führten bis zu einer rustikalen Eingangstüre eines sandsteinfarbenen Hauses. Im Erdgeschoss oder besser Hochparterre brannte noch Licht hinter einem Fenster. Ansonsten war das ganze Haus dunkel. Plotek versuchte sich ein paar Zentimeter am Fenstersims hochzuziehen. Er scheiterte kläglich.
»Scheiße!«
Vinzi hatte ein Einsehen. »Na komm, ich setz mich auf deine Schultern.«
Plotek kniete sich vor den Rollstuhl, und Vinzi schwang seine Stummelbeine um dessen Hals.
»Und hoch!« Das Kommando schien nicht überzeugend genug. Zumindest rührte sich Plotek nicht. Und noch einmal: »Na, mach schon!«
Plotek erhob sich nun schwankend.
»Langsam, langsam, Mensch, mach langsam …«
Plotek tastete sich mit kleinen Schritten an der Hausfassade entlang bis zum beleuchteten Fenster, in das nun Vinzi hineinblicken konnte.
»Was siehst du?«, kam von Plotek außer Atem.
»Ausgestopfte Tiere.«
»Ausgestopfte Tiere?«
»Ja, eine ganze Menge.«
»Was für …«
»Fuchs, Hase, Eichhörnchen, Wildschweine …«
»Und das Reh?«
»Nein, sehe ich nicht. Aber …«
»Ja?«
»Jäggi«, sagte Vinzi.
»Jäggi???«
»Ja, er sitzt im Sessel, in Unterhemd und Unterhose, und sieht fern.«
»Was?«
»Porno.«
»Nein!«
»Doch, eindeutig. Auf dem Bildschirm sind lauter Männer zu sehen. Nackte Männer. Sieht nach Gangbang aus. Schwulengangbang.«
Vinzi fing an zu kichern. »Mit Cumshots in Zeitlupe.« Das Kichern ging in Lachen über, sodass sein gedrungener Körper vibrierte. Dann zitterte. Das Zittern wurde zum Wackeln. Und mit ihm wackelte jetzt auch Plotek. Immer heftiger, immer unkontrollierter. Ploteks Knie wurden langsam weich. Er spürte, wie er immer schwächer wurde. Sein Gleichgewichtssinn, momentan ohnehin nicht bestens ausgeprägt, ließ ihn im Stich.
»Verdammt!«
»Pass auf!«
Aber denkste. Half auch nichts. Die Knie knickten trotzdem ein, und Plotek stürzte mitsamt Vinzi auf den Schultern zu Boden. Sie landeten in einem Schneehaufen neben dem Haus.
Ohne lange darin zu verharren, robbten beide ganz schnell zurück zum Rollstuhl. Vinzi schwang sich auf den Sitz, und Plotek langte nach den Rollstuhlgriffen und fuhr los.
Am Fenster tauchte Jäggi auf und sah auf die Straße hinunter. Da waren Plotek und Vinzi aber schon verschwunden.
Sie waren mittlerweile wieder auf der Dorfstraße unterwegs, als Plotek erneut anhielt und leiser als noch zuvor fragte: »Hörst du das auch?«
»Was?«
»Pscht!«
Beide horchten.
»Da schreit doch wer?!« Na ja, schreien war vielleicht nicht ganz korrekt. Auch ein bisschen übertrieben. Es hörte sich eher an wie ein Gewinsel, mit Hand vor dem Mund.
»Das kommt von der Baustelle.«
»Ist das nicht die Edelrose ?«, fragte Plotek.
»Die Chinesen!«, kam im Tonfall Jäggis von Vinzi.
Beide lächelten. »Der Jäggi hat sie doch nicht mehr alle.«
Gegenüber vom Hotel Edelrose war ein eingerüsteter Rohbau zu sehen. Das sollten, laut der Informationstafel vor der Baustelle, das neue Tagungs- und Konferenzzentrum des Hotels sowie einige Ferienwohnungen werden. Die Fünf-Sterne-Variante wurde mit der Modernisierung angestrebt. Man wollte ins Hochpreissegment vorstoßen. Offensichtlich um dem Hotel Waldhaus , majestätisch über dem Ort wie eine Burg thronend, Konkurrenz zu machen. Um die Baustelle herum standen Container, Kräne und Baumaschinen. Ein Baustellenzaun aus Holz, auf dem mit gelben Schildern gewarnt wurde, dass Eltern für ihre Kinder haften, umgab die komplette, jetzt im Dunkeln liegende Baustelle.
»Sollen wir nachschauen?«, fragte Vinzi.
»Weiß nicht.«
Ein Scheppern war zu hören, so als wäre ein Blecheimer umgefallen. Dann wieder Geschrei. Oder besser dumpfes Gestammel. Vinzi hüpfte aus seinem Rollstuhl. Sie schlichen am Bauzaun entlang, schlüpften durch einen kleinen Spalt und gelangten auf das Gelände, auf dem sich genau genommen nicht nur ein, sondern zwei Rohbauten befanden. Zwischen ihnen lag ein Platz, auf dem ein Dixi-Klo sowie etliche Baugeräte und Betonmischmaschinen standen. Von da aus betraten sie das nähere der beiden Gebäude. Es war dunkel und roch nach Beton. Jetzt war nichts mehr zu hören. Kein Geschrei, kein
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