Silver - Erbe der Nacht (German Edition)
schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. »Vielleicht nicht. Manchmal wünschte ich mir, meine Eltern hätten nie existiert …«
Dougall schwieg für ein paar Augenblicke und betrachtete ihre bebenden Lippen.
»Ich bin stolz darauf, sie kennengelernt zu haben«, sagte er dann. »Es war im Jahr 1821, als ich deinem Vater zum ersten Mal begegnet bin. Ich war siebzehn und er sogar noch jünger. Wenn Morgan nicht gewesen wäre, hätte ich mich an dem Tag vielleicht zurückgezogen und mein Leben wäre ganz anders verlaufen. Aber er hatte schon als Jugendlicher Charisma und ich war naiv genug, mich von ihm und seinem ganzen Vertrauen in die Ideale anstecken zu lassen.«
Winter dachte wieder an das Gesicht ihres Vaters. Das unschuldige Licht in seinen Augen erinnerte sie an Dai und seine kindliche Begeisterung. Vor Angst krampfte sich ihr Herz zusammen.
Der Junge, der den Frieden beschützen wollte um den Preis seines eigenen Lebens, würde eines Tages der Mann werden, der imstande war, den Rat in den Untergang zu treiben.
Dougall beobachtete sie aus den Augenwinkeln und Winter wusste, dass er auf ihren nächsten Angriff wartete.
Sie atmete tief durch und glitt zum zweiten Mal bis in seinen Geist hinein. Denn so hartnäckig sie sich auch dagegen wehrte, sie wollte der Sache doch auf den Grund gehen. So war sie immer gewesen …
Die Bilder liefen ungeordnet vor ihr ab, eine gewaltige Bilderfolge aus zwei Jahrhunderten voller Erinnerungen.
Winter griff sich aufs Geratewohl eine heraus.
Die Umgebung sah so anders aus, dass sie dachte, gar nicht in Westminster zu sein. Es fehlten der Asphalt und die Autos und viele der neueren Gebäude.
Winter ging mit zügigen Schritten neben ihrem Vater her. Es mussten mehr als zehn Jahre seit der Initiation vergangen sein, sein Gesicht war nun dasjenige eines erwachsenen Mannes, doch sein Blick hatte sich nicht sehr verändert.
Die Stiefel machten kein Geräusch auf dem Kopfsteinpflaster, und unter dem flackernden Licht der Öllaternen gingen ihnen ihre langen Schatten voraus.
Nur die Erinnerungen Dougalls halfen ihr zu verstehen, dass sie sich nicht weit entfernt von dem Ort befanden, an dem eines Tages die Victoria Station entstehen würde.
Eine Pferdekutsche trabte unweit an ihnen vorbei, und das Echo der Hufe hallte in der Straße.
»Ist das dort das Gebäude?«, fragte Dougall die in einen Mantel gehüllte Gestalt, die ihnen vorausging.
»Richtig, Malcolm«, erwiderte jener und drehte sich zu ihm um. Winter hielt den Atem an, als sie Darran Vaughan erkannte.
Vaughan näherte sich dem Tor, auf das Dougall gezeigt hatte, und betätigte den Türklopfer.
Nach ein paar Augenblicken öffnete ihnen ein hübsches rothaariges Dienstmädchen, dessen langer Rock auf dem Fußboden raschelte.
»Sagt eurem Herrn, dass Lochinvar uns schickt«, befahl Vaughan rasch.
Das Dienstmädchen erbleichte ganz leicht. Sie war menschlich, doch der weiße Schal, den sie um den Hals trug, sowie ihre Reaktion bewiesen, dass sie die Natur der drei unerwarteten Gäste wohl kannte.
»Bitte treten Sie ein. Sie werden bereits erwartet.«
Sie machte die Eingangstür etwas weiter auf, trat steif zur Seite und ließ die Vampire eintreten. Dann ging sie ihnen voran.
Das Innere des Wohnhauses war noch reicher und prunkvoller als das Äußere, überall Samt, Brokat und Kristall. Der Hausherr ließ es sich offenbar gern gut gehen.
Dougall weigerte sich wiederum, Winter den Grund dieses Besuchs zu enthüllen, und sie konnte nichts anderes tun, als ihm zu folgen.
Der Mann, der sie empfing, war kräftig und nicht allzu groß, seine stolze, kriegerische Haltung stand in seltsamem Widerspruch zu den mehr als nur angedeuteten Rundungen seines Bauchs. An seiner Brust prangte eine silberne Brosche: ein Schild mit einer eingravierten Sonne. Das Wappen der Familien.
»Wer von euch ist Morgan Blackwood?«, fragte er furchtlos.
Morgan machte mit einer respektvollen Verbeugung einen Schritt nach vorn und der Mann reichte ihm einen mit Siegellack verschlossenen Umschlag.
»Ich habe den Auftrag, diesen Umschlag nur euch zu übergeben, damit ihr ihn dem Großmeister aushändigt.«
Winter sah den Blick, den ihr Vater und Vaughan tauschten. Vaughans Gesichtsausdruck blieb unverändert, Morgan jedoch schien unzufrieden zu sein.
Das war eines von Lochinvars Spielchen , erklärte Dougall angesichts ihrer Überraschung. Vaughan war seine rechte Hand, doch manchmal machte er sich den Spaß, seine Treue zu testen, indem
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