Silver - Erbe der Nacht (German Edition)
modernen Kommunikationsmittel setzen sich bei unseren Alten nur langsam durch, aber ein Telefon reicht völlig, um die Distanz zu überbrücken. Und die seltenen Kontakte erlauben jedem unserer Anführer, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, ohne dass sich jemand anders einmischt«, fuhr der Mann fort. »In Wahrheit musst du dir den Rat der beiden Geschlechter mehr wie ein großes Unternehmen vorstellen als wie einen mittelalterlichen Ritterorden, Winter. Die Mehrheit der Mitglieder hat jedes Interesse daran, dass ein gutes Klima scheinbarer Zusammenarbeit aufrechterhalten bleibt, und zwar vor allem, um ihre Mitgliederquoten zu vermehren. Wenig romantisch, aber sehr wirksam in diesen Zeiten.«
Bethan schnaubte. »Wirklich eine ausgezeichnete Art und Weise, um sie für unsere Sache zu begeistern«, kommentierte sie beißend.
»Ich vergaß Ihr jugendliches Alter, Mrs Davies. Auch ich war vor dem neunzigsten Lebensjahr ein unheilbarer Idealist«, erwiderte Dougall ironisch. »Es ist in der Tat jammerschade, dass wir die Träume unserer jungen Schülerin zerstören müssen, doch mir ist daran gelegen, ihr die Augen für die Realität zu öffnen.«
Er drehte sich halb um, lehnte den Rücken an die Backsteinmauer der Fensternische und rückte den Hut auf dem Kopf zurecht.
»Im Übrigen tut es mir leid, euch unterbrochen zu haben. Fahren Sie fort, ich bitte Sie.«
Die Frau stützte die Hände auf die wohlgeformten Hüften und sah ihn entnervt an, bevor sie weitersprach. »Okay. Im Grunde hat er nicht unrecht. Theoretisch besteht die vorrangige Aufgabe des Oberhaupts der Familien und des Großmeisters des Ordens jedoch darin, den Frieden zu wahren. Daran sollten sie eigentlich von den anderen Mitgliedern des Rats, den jüngeren Räten, den Wortführern der Menschen und der Vampire, erinnert werden. Und ich möchte hinzufügen, bevor mir jemand zuvorkommt, dass es früher mal Zeiten gab, wo ihre Rolle wesentlich mehr geschätzt wurde als heute. Um die Metapher des Unternehmens aufzugreifen, sind die Anführer Personalleiter, deren Verantwortung darin besteht, die Unternehmensführung über den reellen Stand der Tatsachen zu informieren.«
Winter beneidete sie nicht. Nach dem, was sie bisher erlebt hatte, war es sicher keine leichte Aufgabe.
»Müsste der Frieden nicht für alle von Vorteil sein?«
» Macht ist für alle von Vorteil«, murmelte Dougall, bevor Bethan antworten konnte. »Der Frieden ist ein nebensächliches Gut, das viele zu vernachlässigen neigen.«
Unter der Hutkrempe verzogen sich seine Lippen zu dem üblichen offenen und unwiderstehlichen Lächeln.
Bethan verzichtete auf eine Erwiderung. Es hatte keinen Sinn leugnen zu wollen, dass sie sich am Rande eines Aufstands befanden.
»Möchten Sie fortfahren, Dougall?«
Er hob den Kopf.
»In der Tat, das würde ich gern«, gab er ungeniert zu. »Ich möchte Winter ein paar Dinge zeigen.«
Er schwang die Beine durch das Fenster, sprang hinaus und fand sofort wieder das Gleichgewicht. Dann streckte er dem Mädchen die Hände hin.
Winter warf Bethan einen entschuldigenden Blick zu und kletterte durch das Fenster, ohne auch nur einen Augenblick die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, die Tür zu benutzen.
»Wohin?«, fragte sie, nachdem sie mit einem Sprung im Gras neben ihrem Lehrmeister gelandet war.
Dougall zog theatralisch den Hut und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Hier hinein«, verkündete er in herausforderndem Ton.
Bevor sie sich zurückziehen konnte, hatte er schon ihre Hand ergriffen und führte sie mitten auf die Wiese.
»Dir die Dinge einfach nur zu erzählen, wäre viel zu banal. Außerdem ist es etwas ganz anderes, wenn man die Wahrheit erlebt …«
Er setzte sich, legte den Hut auf seine Knie und schaute sie erwartungsvoll an.
Winter stellte sich vor ihn hin. Dougall machte es ihr nie einfach, doch ein Teil von ihr begann sich an seine Art zu gewöhnen.
Sie nahm seine Herausforderung an, rief nach der MACHT und schleuderte sie ihm unvermittelt entgegen.
Sie überwand seine Barriere, ohne auf Widerstand zu stoßen, und begriff, dass Dougall ihr dieses Geheimnis freiwillig zeigen wollte.
Winter befand sich plötzlich in einem riesigen Saal ohne Fenster.
Es war ein seltsamer, langer und schmaler Raum, ähnlich gewissen Kirchenschiffen, der in einem runden Podium endete, das von zierlichen Säulen aus grauem Stein umgeben war. Unmittelbar dahinter, am Ende des Raums, stand ein antik aussehender hölzerner
Weitere Kostenlose Bücher