Silver Linings (German Edition)
der Eagles spielen. Seine Version ist nicht besonders anspruchsvoll, bloß eine einfache Akkordfolge, aber die Melodie ist unverkennbar. Als er anfängt zu singen, singe ich mit. Nachdem er fertig ist, skandieren wir den Schlachtruf, und dann erzählt Jake mir, dass er seit drei Jahren Unterricht nimmt. Er spielt mir sogar noch ein Stück vor, das ganz anders ist als «Fly, Eagles, fly». Dieses nächste Stück kommt mir bekannt vor. Es ist erstaunlich sanft, als würde ein Kätzchen durch hohes Gras laufen, und es passt irgendwie gar nicht zu Jake, so etwas Schönes hervorzubringen. Ich spüre sogar, wie ich feuchte Augen bekomme, während mein Bruder mit geschlossenen Augen spielt und den Oberkörper im Takt wiegt, was auch lustig aussieht, weil er ein Eagles-Shirt anhat. Zwischendurch macht er ein paar Fehler, aber das stört mich kein bisschen, weil er sich große Mühe gibt, das Stück für mich richtig hinzukriegen, und das allein zählt doch, oder?
Als er fertig ist, klatsche ich laut und frage ihn dann, was er da gespielt hat.
« Pathétique. Klaviersonate Nummer acht. Beethoven. Das war aus dem zweiten Satz. Adagio cantabile », sagt Jake. «Hat’s dir gefallen?»
«Sehr.» Ehrlich, ich bin verblüfft. «Wieso hast du angefangen, Klavier zu lernen?»
«Als Caitlin bei mir eingezogen ist, hat sie ihr Klavier mitgebracht, und seitdem bringt sie mir so allerhand über Musik bei.»
Mir wird ein bisschen schwindelig, weil ich von dieser Caitlin noch nie etwas gehört hab, und ich glaube, mein Bruder hat mir soeben erzählt, dass sie hier mit ihm zusammenwohnt, was bedeuten würde, dass mein Bruder eine feste Beziehung hat, von der ich nichts weiß. Das kommt mir nicht richtig vor. Brüder sollten voneinander wissen, mit wem der andere zusammen ist. Schließlich bringe ich «Caitlin?» heraus.
Mein Bruder führt mich ins Schlafzimmer, und da steht ein großes hölzernes Himmelbett mit zwei gleichen Kleiderschränken, die einander gegenüberstehen wie Wächter. Er nimmt ein gerahmtes Schwarzweißfoto vom Nachttisch und reicht es mir. Auf dem Foto ist Jakes Wange fest an die einer schönen Frau gedrückt. Sie hat kurzes blondes Haar, das fast so geschnitten ist wie bei einem Mann, und sie sieht sehr zart aus, aber hübsch. Sie trägt ein weißes Kleid, Jake einen Smoking. «Das ist Caitlin», sagt Jake. «Sie spielt manchmal mit dem Philadelphia Orchestra und macht auch jede Menge Aufnahmen in New York. Sie ist klassische Pianistin.»
«Wieso hab ich noch nie was von Caitlin gehört?»
Jake nimmt mir das Foto aus den Händen und stellt es wieder auf den Nachttisch. Wir gehen zurück ins Wohnzimmer und setzen uns auf die Ledercouch. «Ich wusste ja, wie fertig du wegen Nikki warst, deshalb wollte ich dir nicht sagen, dass ich … na ja … glücklich verheiratet bin.»
Verheiratet? Das Wort trifft mich wie eine Riesenwelle, und auf einmal bin ich in Schweiß gebadet.
«Mom hat sogar versucht, dich für die Trauung aus der Klinik in Baltimore zu holen, aber da warst du gerade erst eingewiesen worden, und sie haben dich nicht rausgelassen. Mom wollte nicht, dass ich dir schon von Caitlin erzähle, deshalb hab ich auch erst mal nichts gesagt, aber du bist mein Bruder, und jetzt, wo du wieder zu Hause bist, solltest du über mein Leben Bescheid wissen, und Caitlin ist der beste Teil davon. Ich hab ihr alles über dich erzählt, und wenn du willst, kannst du sie heute kennenlernen. Ich hab sie gebeten, den Vormittag über die Wohnung zu verlassen, während ich dir die Neuigkeit beibringe. Aber jetzt kann ich sie anrufen, und wir können uns mit ihr zum Lunch treffen, bevor wir zum Linc fahren. Also, möchtest du meine Frau kennenlernen? »
Ehe ich mich versehe, sitze ich in einem kleinen schicken Café in der Nähe der South Street einer schönen Frau gegenüber, die unter dem Tisch die Hand meines Bruders hält und mich ohne Unterlass anlächelt. Jake und Caitlin bestreiten die Unterhaltung, und ich fühle mich ähnlich, wie wenn ich mit Veronica und Ronnie zusammen bin. Jake beantwortet die meisten Fragen, die Caitlin mir stellt, weil ich kaum ein Wort sage. Nikki wird genauso wenig erwähnt wie meine Zeit an dem schlimmen Ort oder wie grotesk es ist, dass Caitlin seit Jahren mit meinem Bruder verheiratet ist, ohne dass ich auch nur von ihrer Existenz wusste. Als der Kellner kommt, sage ich, dass ich keinen Hunger habe, weil ich nicht viel Geld dabeihabe – nur die zehn Dollar, die meine Mutter mir für
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