Silver Moon
wäre hart gewesen, auf der anderen, friedlichen Seite zu bleiben und sie meinetwegen alle leiden zu sehen.«
Yumas Worte gingen durch und durch. »Wie hast du sie gesehen? Und wie bist du nach Hause gekommen?«
Dieses Thema interessierte mich brennend.
»Sehen kann man alles ganz normal; hören kann man auch alles, man kann sogar die Gedanken der Menschen wahrnehmen! Ich konnte überall hingehen, wo immer ich wollte, ich brauchte dafür nur daran zu denken, und schon war ich da. Mich zog es zu meiner Familie, wie sich alle Verstorbenen zu ihren Liebsten hingezogen fühlen. Wenn wir sterben, löst sich die Seele nur vom Körper und kehrt dahin zurück, wo wir herkommen, wir gehen praktisch nach Hause. Und dennoch bleiben wir nah bei denen, die wir auf Erden lieb gewonnen haben, und warten auf sie, bis sie auch kommen. Das Schlimmste an dieser Situation ist, die Hinterbliebenen leiden zu sehen. Sie weinen und man kann nichts tun! Darum bat ich dich auch, Eyota ziehen zu lassen und ihn nicht durch deine Traurigkeit zu halten. Irgendwann kommt für uns alle der Zeitpunkt, um loszulassen. Und trotzdem ist dieser Abschied nur weltlich, wir verlieren die geliebten Wesen nicht wirklich! Im Gegenteil – meist sind sie uns nach ihrem Tod näher als zuvor, ohne dass wir es wissen. Aber das Wichtigste ist, dass wir alle auf die andere Seite gehen und uns alle wiedersehen werden! Darum sagte ich auch, das Leben ist hart, sterben ist viel leichter. So ist es wirklich! Auf der anderen Seite wartet tatsächlich ein Paradies. Und dennoch hat das Leben so seinen Reiz, denn das gibt es dort nicht«, erklärte Yuma und gab mir einen Kuss auf den Mund. »Einen Körper zu haben, spüren, fühlen, schmecken und riechen zu können, sind Geschenke des Lebens! Die sollte man nutzen, solange man kann!«, fügte er hinzu, ehe er mich fest in seine Arme zog und so lange hingebungsvoll küsste, bis ich selbst das Prickeln spürte, das ihn wieder in einen Wolf verwandelte. Es ging wahrhaftig schnell: Eben noch hielt ich Yuma im Arm, und eine Sekunde später fühlte ich meinen flauschigen Freund Sakima. Nur eines war identisch bei beiden: die Augen! Einerseits tat es mir weh, Yuma so zu sehen, andererseits war es mir egal.
Ich blickte ihn eindringlich an und gestand: »Ich liebe dich!«
Entführung
Es dauerte ein paar Tage, bis ich wahrhaftig realisiert hatte, dass es Sakima gar nicht gab, sondern dass es stets Yuma war, der als Wolf den Tag mit mir teilte. Es waren merkwürdige Empfindungen, den Menschen, den man über alles liebt, wissend in Gestalt eines Tieres zu sehen. Und genauso seltsam empfand ich die Tatsache, Sakima verloren zu haben; denn meinen vertrauten, geliebten Wolfsfreund hatte es im Grunde nie gegeben. Irgendwie vermisste ich die Unbeschwertheit, die ich früher in seiner Gegenwart gespürt hatte.
Mein Wissen um sein wahres Wesen verkomplizierte so manches in unserem Alltag. Ich wollte Sakima als Mensch gerecht werden, den Wolf am liebsten gar nicht mehr sehen und Yuma so respektvoll wie nur möglich behandeln, wenn er als Tier an meiner Seite stand. Für meine Geschwister war es schwer zu verstehen, wenn ich ihn mit Schokolade fütterte, permanent für ihn Partei ergriff, versuchte, seine Gesten zu übersetzen, und mit ihm in aller Vertrautheit schmuste, ihn gar küsste. Selbst Kai sagte am Montag zu mir, ich sei wolfsüchtig und solle Sakima wenigstens mal Luft zum Atmen lassen. Obwohl ich Sakima schon immer schätzte und ihm vertraute, wurden meine Handlungen in seiner Gegenwart nun noch unverständlicher für fremde Augen. Ich spürte am eigenen Leib, welch Bürde sein Geheimnis war. Solange ich mit Sakima in trauter Zweisamkeit zusammen war, konnte ich ganz unbekümmert meinen Gefühlen folgen und meine Liebe zu ihm ausleben. Aber wenn meine Geschwister dabei waren, wurde es komplizierter.
Als Anouk und mein Bruder am Dienstagabend zu uns kamen, um uns mitzuteilen, dass Kai über Yumas Schicksal aufgeklärt war, fiel mir ein kleiner Stein vom Herzen. Endlich konnte ich das Geheimnis mit jemandem aus meiner Familie teilen.
Kai saß auf dem Sofa und sah unentwegt Sakima an, er beobachtete ihn und schüttelte immer wieder den Kopf.
»Du bist also tatsächlich Yuma? Ja, an den Augen kann man es erkennen, aber sonst … Das ist der blanke Wahnsinn! Dass so etwas möglich ist, also – wow!«, raunte er.
»Wow?«, wiederholte Anouk überrascht und Unverständnis stand ihr ins Gesicht geschrieben. Kai nickte. »Ja,
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