Silvermind (German Edition)
musste. Doch die Worte, die er sich zuvor ausgedacht hatte, waren wie weggeblasen. Nero verunsicherte ihn. Dabei war Ray nie schüchtern oder schnell aus der Ruhe zu bringen gewesen.
„Wie geht es dir?“, meinte Nero nach einer Weile. Ray senkte den Blick. Vielleicht war es das Beste, wenn er Nero ein paar ehrliche Antworten gab, ohne auszuweichen. Der Start war ihm bereits abgenommen worden. Der Auftakt zur Ehrlichkeit. Er atmete tief ein und sah Nero wieder an.
„Besser. Auf die Schmerzen könnte ich allerdings verzichten.“ Nero schien mit Ablehnung gerechnet zu haben, denn für einen Augenblick schien er tatsächlich überrascht, von Ray eine Antwort bekommen zu haben.
„Das glaube ich dir. Ich habe vorhin mit meiner Mutter geredet. Lora ist absolut munter. Sie scheint Spaß zu haben.“
„Ja“, pflichtete Ray bei. Das hatte er gemerkt. „Ich denke, es war das Richtige. Für sie ist es wichtig, eine weibliche Bezugsperson zu haben. Die fehlt ihr. Ich kann sie nicht ersetzen.“ Nero nickte, schien zu überlegen, wie er die nächsten Worte, die ihm scheinbar auf der Zunge lagen, formulieren sollte. Er schwieg ein paar Sekunden, die Ray dazu nutze, den Leader zu betrachten. Dessen blonde Haare glänzten in der Sonne golden, das Gesicht war frisch rasiert. Nero war ein attraktiv aussehender Mann.
„Vielleicht musst du dir vor Augen halten, dass du ihr Bruder bist“, tastete Nero sich vorsichtig an das Thema heran. „Zwangsläufig hast du die elterlichen Pflichten übernehmen müssen, aber du darfst dich dabei nicht verlieren. Wann hast du das letzte Mal an dich gedacht?“
Ray fühlte sich unwohl, obwohl Nero einfühlsam war. Der Leader war ehrlich und brachte die Dinge ohne Umschweife auf den Punkt. Eine Eigenschaft, die Ray bereits an dessen Mutter aufgefallen war. Vielleicht war das der Punkt. Er fühlte sich mit einem Mal nackt und völlig ausgeliefert, seiner Mauer beraubt.
Aber Ray wusste eindeutig, wann er das letzte Mal an sich gedacht hatte. Die Erinnerungen standen ihm lebhaft vor Augen. Spürte die Hände, die Zunge, die hungrigen Lippen auf den seinen. Vielleicht konnten sie auf der körperlichen Ebene besser kommunizieren, als sie es mit Worten vermochten.
„Ich denke, das weißt du“, meinte Ray und sah Nero tief an. Da war sie wieder, diese Spannung zwischen ihnen, das leise Knistern, das sich jedes Mal einstellte, wenn sie sich auf diesem Terrain bewegten. Ray hätte den Leader gerne berührt, den Mund auf dessen Kehlkopf gelegt, eine Spur sanfter Bisse über die Haut verteilt. Aber es war Wunschdenken. Nero würde das nicht zulassen. Das hatte er Ray deutlich gemacht, weswegen die Erinnerung an den Keller zugleich mit einem dunklen Schleier behaftet war. Nero schien zudem nicht, als wollte er es wiederholen. Sein Gesichtsausdruck war eindeutig.
„Vergiss, was ich gesagt habe“, machte Ray einen Rückzieher. Ehrlichkeit bedeutete nicht, dass die Dinge, die man hörte, schön waren. Ray musste das Gespräch auf das eigentliche Thema lenken, um das es ihm ging. Er wollte Nero nicht unnötig beanspruchen. Je länger sie zusammen waren, desto mehr lief die Unterhaltung Gefahr, in einer Auseinandersetzung zu enden, was er nicht wollte. „Ich wollte mit dir reden, weil ich mich in den letzten Tagen daneben benommen habe. Das tut mir leid. In letzter Zeit war alles ein bisschen viel, sodass ich nicht in der Lage war, vernünftig zu reagieren. Außerdem wollte ich mich für deine Hilfe bedanken. Sowohl dafür, dass du mich ins Krankenhaus gebracht und mir dadurch das Leben gerettet hast als auch dafür, dass Lora bei deinen Eltern untergekommen ist. Ich weiß das zu schätzen“, meinte Ray. Die wichtigen Dinge lagen ausgebreitet auf dem Tisch. Nero schien perplex. Bevor dieser etwas erwidern konnte, trat eine Kellnerin zu ihnen.
„Was darf ich Ihnen bringen?“. Ray sah Nero an. „Möchtest du was trinken?“ Es dauerte einen Moment, bis Nero reagierte.
„Eine Cola“, meinte der schließlich. „Machen Sie zwei daraus“, warf Ray ein. Mit einem Lächeln bedankte sich die Kellnerin und verschwand. Ray wartete darauf, dass Nero etwas sagte. Aber der schien stumm geworden zu sein.
„Nero?“ Ein Blick aus unergründlich braunen Augen traf ihn. Ray erwiderte den Kontakt. Er konnte sich nicht abwenden. Starrend in die Tiefen verlor er sich, mit dem Wissen, dass es nicht gut war, von einem Teil in Nero gefangen genommen zu werden.
„Ich habe das getan, was jeder
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