Sina auf heißer Spur
lächelnd in seinen Hosentaschen gekramt hatte. Das Taschentuch musste mit einem Betäubungsmittel getränkt gewesen sein.
Wo war er jetzt, was hatte er vor?, überlegte Sina und riss die Augen wieder auf.
Dann sah sie die Uhr. Sie stand auf einem Pfosten neben Dakotas Verschlag. Die digitale Anzeige leuchtete grünlich im Dunkeln wie die Augen eines wilden Tieres.
Es war ein ganz normaler Funkwecker, wie er zu Hause auf Sinas Nachttisch stand. Was sollte das, warum war er hier? Hatte Mike ihn hergebracht?
Dann begriff Sina und erschrak fast zu Tode.
23:00 Uhr. Das war die Zeit, auf die der Alarm gestellt war. Um Punkt dreiundzwanzig Uhr würde der Wecker losschrillen. Um Punkt dreiundzwanzig Uhr würde Dakota ausrasten und um sich treten. Und kurz nach dreiundzwanzig Uhr wäre Sinas Leben zu Ende.
Jetzt war es 22:41Â Uhr. Ihr blieben exakt neunzehn Minuten.
Am Anfang versuchte sie alles, um sich zu befreien. Sie zog die Arme nach oben, sie schob sie nach unten. Sie streckte und dehnte und drehte ihre Hände. Alles so ruhig und gleichmäÃig wie möglich, um Dakota nicht zu erschrecken. Sie zog die Knie an. Sie rieb die Beine aneinander. Sie bog sich und wand sich hin und her. Jeder Versuch war gleich sinnlos. Die Fesseln schnitten sich nur noch fester ins Fleisch.
Danach konzentrierte sie sich ganz auf das Pflaster über ihrem Mund. In der Eile hatte Mike es nicht richtig festgeklebt. Eine Ecke stand ab und auf dieser Ecke hatten sich Strohhalme und Staub gesammelt, sodass sie nun nicht mehr auf ihrer Haut haftete. Sina drehte den Kopf zur Seite und rieb den Mund an ihrer Schulter. Nach drei Minuten und zwölf Sekunden hatte sich das Pflaster so weit gelöst, dass sie es mit der Zunge nach vorne schieben konnte.
Vier Minuten und vierundzwanzig Sekunden später spuckte sie es auf den Boden und atmete tief ein. Und nun?
Wenn sie um Hilfe schrie, würde Dakota erschrecken. Und auÃer den Pferden würde sie niemand hören. Sue war ja weg.
Der Wecker auf dem Pfosten zeigte 22:49Â Uhr. Elf Minuten Leben. Mehr blieb ihr nicht.
Sie dachte an ihre Mutter, die untröstlich sein würde. Ich hab doch nur noch dich, Sina, sagte sie seit der Scheidung immer. Aber das stimmte nicht, sie hatte viel mehr. Sie hatte ihre Galerie und viele Freunde und seit Kurzem gab es auch wieder einen Mann in ihrem Leben. Henri. Sina hatte ihn bisher noch nicht getroffen. Sie würde ihn auch nicht mehr kennenlernen.
22:51 Uhr. Sina begann zu weinen. Die Tränen liefen über ihr Gesicht und tropften in die Streu. Ihre Wangen juckten, aber sie konnte sich nicht kratzen. Warum tat Mike ihr das an? Sie wollte nicht über ihn nachdenken, nicht in den letzten Minuten ihres Lebens.
Sie dachte an Tori, mit der sie sich in letzter Zeit so oft gestritten hatte. Dabei waren sie doch beste Freundinnen. Schon im Kindergarten hatten sie sich ewige Treue geschworen. Hoffentlich hat sie nicht gemerkt, wie sauer ich auf sie war, dachte Sina. Hoffentlich behält sie mich in guter Erinnerung. 22:52 Uhr.
David. Sein Eifersuchtsausbruch war gerade einmal ein paar Stunden her. Vorhin hatte Sina sich so über ihn geärgert, jetzt erschien ihr das Ganze nur noch lächerlich. Er hat mich nie geliebt, dachte sie, er wollte mich nur besitzen, so wie man eine Digitalkamera besitzt oder ein iPhone.
22:54Â Uhr. Noch sechs Minuten. Sie beschloss, die Augen zuzumachen, weil sie nicht sehen wollte, wie ihre letzten Lebensminuten verrannen wie Sand in einer Eieruhr.
Viktor. Sie hörte seine Stimme. Er rief ihren Namen. Es war wunderschön, sich vorzustellen, dass er da drauÃen im Hof war und nach ihr suchte.
Viktor, dachte Sina in den letzten Minuten ihres Lebens. Warum habe ich bloà nicht gemerkt, dass er tausendmal cooler ist als David? Und viel, viel netter noch dazu. Jetzt ist es zu spät.
Dann hörte sie, wie die Stalltür aufging.
Unwillkürlich riss sie die Augen auf.
Der Wecker zeigte 22:58Â Uhr.
âSina?â Viktors gedämpfte Stimme drang durch den Stall. âBist du hier?â
Dakotas Ohren standen von einer Sekunde zur anderen senkrecht. Trotz der Dunkelheit erkannte Sina, wie sich sein Körper anspannte. Er machte sich bereit. Bereit zum Ausrasten.
âViktorâ, zischte sie halblaut zurück. âIch bin hier hinten!â
Keine Reaktion. Er hatte sie nicht gehört. Sollte sie noch einmal rufen und riskieren, dass sie Dakota in
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