Sind Sie hochsensibel?
Sie die Bedürfnisse Ihres hochsensiblen Körpers zu schätzen lernen. Da dies für HSM oft so erstaunlich schwer ist, habe ich herausgefunden, dass ein Bild diese Aufforderung am besten ausdrücken kann: Behandeln Sie Ihren Körper wie einen Säugling. Wie Sie sehen werden, ist diese Metapher so treffend, dass sie vielleicht überhaupt gar keine mehr ist.
Im Alter von sechs Wochen: Wie es gewesen sein könnte
Ein Sturm droht loszubrechen. Das Licht wird metallisch. Die Wolkenparade am Himmel bricht auseinander. Himmelsfetzen zerstieben in alle Richtungen. Der Wind sammelt still seine Kraft. Man hört ein Brausen, aber keine Bewegung ist zu sehen. Der Wind und sein Rauschen haben sich getrennt. Jeder hetzt hinter dem verlorenen anderen her, hält abrupt inne und jagt wieder los. Die Welt zerfällt. Irgendetwas wird gleich geschehen.
Das Unbehagen wächst. Es breitet sich vom Zentrum heraus und verwandelt sich in Schmerz. 50
Das gerade Beschriebene ist eine Momentaufnahme eines wachsenden Hungergefühls, wie es ein sechs Wochen alter Säugling mit Namen Joey erlebt und wie es sich der Entwicklungspsychologe Daniel Stern in seinem ansprechenden Buch
Tagebuch eines Babys
vorstellt. Joeys Tagebuch liegt sehr umfangreiches Forschungsmaterial über Säuglinge zugrunde. Zum Beispiel nimmt man heute an, dass Säuglinge weder innere von äuÃeren Reizen unterscheiden noch zwischen ihren verschiedenen Sinnen differenzieren noch ein gegenwärtiges Erlebnis von einem erinnerten trennen können. Sie nehmen sich selbst auch nicht als die Person wahr, die das alles erlebt.
Unter Berücksichtigung all dessen fand Stern heraus, dass das Wetter eine gute Analogie zu den Erfahrungen eines Säuglings darstellt. Dinge finden einfach nur statt und unterscheiden sich vor allem durch ihre Intensität. Störend ist alles, was zu heftig erscheint, denn dadurch wird nervliche Ãbererregung ausgelöst. HSM notieren sich bitte: Nervliche Ãberreizung ist das erste und grundlegendste beunruhigende Erlebnis im Leben. Unsere erste Lektion zum Thema Ãbererregung lernen wir bei unserer Geburt.
Wie Stern sich Joeys Gefühle vorstellt, nachdem er gestillt und sein Hunger befriedigt wurde, erfahren Sie hier:
Alles ist neu zu erschaffen. Eine veränderte Welt erwacht. Der Sturm ist vorüber. Der Wind hat sich gelegt. Der Himmel ist besänftigt. Es erscheinen flieÃende Linien und schwebende Formen. Sie verheiÃen Harmonie und lassen alles lebendiger werden, wie wenn Licht sich verändert. 51
Stern glaubt, dass Säuglinge wie auch Erwachsene ein starkes Bedürfnis nach einem ausgeglichenen Erregungszustand haben:
Das Nervensystem eines Säuglings ist in der Lage, sofort die Intensität eines Lichts, eines Geräuschs, einer Berührung zu bestimmen, also der Reize, für die seine Sinne bereits ausgebildet sind. Die Intensität seines Gefühls einem Objekt gegenüber ist vermutlich sein erster Anhaltspunkt dafür, ob er darauf zugehen oder sich davon fernhalten soll. [...] Ist der Reiz jedoch mäÃig intensiv, wie der Reflex des Sonnenlichts an der Wand, ist der Säugling wie verzaubert. Die gerade noch erträgliche Intensität erregt ihn, er reagiert sofort darauf. Die Intensität erhöht seine Lebhaftigkeit und aktiviert sein ganzes Wesen. Seine Aufmerksamkeit ist wacher. 52
Mit anderen Worten: Es macht keinen Spaà gelangweilt zu sein. Andererseits wird der Säugling beziehungsweise unser Körper mit dem Instinkt geboren, sich von all dem fern zu halten, was als zu intensiv empfunden wird, um den Zustand der nervlichen Ãbererregung zu vermeiden. Für einige ist das jedoch leichter gesagt als getan.
Sechs Wochen alt und äuÃerst sensibel
Jetzt werde ich mich selbst literarisch versuchen und die Erlebnisse eines imaginären hochsensiblen Säuglings namens Jesse niederschreiben:
Der Wind bläst unaufhörlich â manchmal bricht er in ein lautes Geheul aus und manchmal hört er sich wie ein gereiztes und erschöpftes Jammern an. Seit einer Ewigkeit schwirren die Wolken in zahllosen Formen, mal in grellem Licht und mal dunkelflimmernd vorüber. Jetzt legt sich eine Unheil verkündende Dämmerung über das Land und einen Moment lang scheint der Wind wie auch das Licht von ihm aufgesogen.
Aber die Dunkelheit bietet keine Orientierung und der heulende Wind wechselt ständig und unentschlossen
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