Sine Culpa
hinreißendes Wesen er doch war, fast vollkommen, fast … Paul. Stimmte das? Paul war außergewöhnlich gewesen; war Sam wirklich so gut oder spielte ihm sein Verstand einen Streich? Egal. Ihm genügte das Wissen, dass Sam da war, ihn erwartete, wann immer er ihn brauchte.
Smith hielt sich weder für einen Pädophilen noch für einen Sadisten. Wenn er seine sexuellen Vorlieben hätte beschreiben müssen, hätte er das mit kunstvollen, sogar zärtlichen Worten getan. Sein Selbstbetrug war perfekt. Und das machte ihn zu einem sehr, sehr gefährlichen Mann.
Miss Pennysmith war schon seit zehn Minuten fertig und wartete darauf, zum Mittagessen im Seniorenzentrum abgeholt zu werden. Normalerweise hätte sie sich auf die Abwechslung gefreut, aber heute nicht. Mit Sicherheit würde über den Artikel in der Sunday Times geredet werden, und man würde sie nach ihrer Meinung fragen.
Als sie den Speisesaal betrat, hielt sie nach einem freien Platz Ausschau. Es waren doch drei Stühle unbesetzt, einer neben Winnie Hampshire, die stocktaub war und ihr Essen immer zu Brei zermatschte, ehe sie es von der Gabel lutschte. Ein weiterer neben Pam Seabright, einer sehr netten Frau, die aber ständig davon schwärmte, dass das Essen auf dem Festland ja so viel besser war. Folglich entschied sie sich für den Platz neben Jasper.
Jasper war dreiundachtzig und hielt sich immer noch für einen Charmeur. Normalerweise hätte sie ihn gemieden, aber heute wäre sein neckisches Geplauder eine willkommene Abwechslung. Als er sie kommen sah, stand er auf, zog den leeren Stuhl mit einer schwungvollen Bewegung heraus und vollführte eine, wie er fand, galante Verbeugung.
»Ha, die bezaubernde Margaret Pennysmith erweist uns das Vergnügen ihrer Anwesenheit. Sie sehen heute wieder ganz besonders entzückend aus, meine Liebe.«
Die bezaubernde Margaret sah an ihrem grau-weiß gestreiften Kleid hinunter und rang sich ein Lächeln ab. Erst nachdem der erste Gang – französische Zwiebelsuppe – serviert und verspeist war, nahm sie sich die Zeit, die übrige Tischgesellschaft zu inspizieren.
Eine muntere Frau namens Bettie saß rechts von ihr. Sie kannte sie nicht gut und freute sich bei der Aussicht auf unverbrauchte Konversation. Links saß Jasper. Dann kam Judy, eine sympathische ehemalige Lehrerin, mit der man gute Gespräche über Bücher und Filme führen konnte. An ihrer Seite war George Stevens, der sich gerade quer über den Tisch mit Jasper über das letzte Kricketspiel unterhielt. Mit einer sehr alten Dame, die neben Bettie saß, schloss sich der Kreis. Sie musste weit über neunzig sein. Miss Pennysmith hatte sie noch nie gesehen, aber sie schien ihren Blick zu spüren, denn sie hob den Kopf und lächelte sie an, was ihr Gesicht mit einem feinen Netz aus Fältchen überzog.
Während die Teller abgeräumt wurden, ergab sich ein angeregtes Gespräch zwischen ihr, Jasper und Judith über die Frage, ob die Fernsehgebühren abgeschafft werden sollten.
Sie waren fast fertig mit dem Roastbeef, und Miss Pennysmith begann, sich zu entspannen, als die Unterhaltung genau die Richtung einschlug, die sie befürchtet hatte. Judith verteidigte die Rolle der öffentlich-rechtlichen Sender und meinte, eine »unabhängige Stimme« sei notwendig, doch Jasper konterte recht vehement: »Unsinn! Sollen wir etwa dafür bezahlen, dass die so einen Quatsch senden wie Samstagabend? Das war doch die reinste Gebührenverschwendung.«
Es war, als hätte der ganze Tisch nur darauf gewartet, dass das Thema zur Sprache kam. Jeder hatte einen Kommentar dazu parat – alle, außer Margaret und der alten Frau neben Bettie.
Rasch bildeten sich die Fronten heraus: Die einen glaubten an die Unschuld des Majors, die anderen nicht. Miss Pennysmith blieb stumm und konzentrierte sich darauf, die letzte Scheibe Rindfleisch auf ihrem Teller in kleine Stückchen zu schneiden und diese dann bedächtig zu kauen. Sie hoffte inbrünstig, dass man sie in Ruhe lassen würde, aber natürlich wurde sie nach ihrer Meinung gefragt.
»Was meinen Sie denn, Margaret, Sie kannten ihn ja recht gut, oder?« Jasper war es, der die Aufmerksamkeit auf sie lenkte.
Miss Pennysmith griff nach ihrem Wasserglas und trank einen Schluck, dann noch einen, obwohl die Stille rings herum immer erwartungsvoller wurde. Sie stellte das Glas ab und versuchte, niemand Spezielles anzusehen.
»Ich halte ihn für unschuldig«, sagte sie schlicht und hörte zumindest ein überraschtes Luftholen.
»Wie
Weitere Kostenlose Bücher