Sine Culpa
überlebt hätte.«
Nightingale hatte Fenwick nie erzählt, dass sie selbst einmal von zu Hause ausgerissen war und eine Zeitlang auf der Straße gelebt hatte. Das blieb ein Geheimnis, dessen sie sich noch immer schämte. Aber es hatte ihre Weltsicht geprägt, und sie empfand weniger Mitleid für die Jungen als er.
»Ich schätze, er wäre irgendwann endgültig weggelaufen und jung gestorben, wie Jack, eine anonyme Ziffer in irgendeinem großstädtischen Albtraum. Wo sich unser Kinderschänder wahrscheinlich jetzt immer noch vergnügt. Ich glaube, ich könnte nicht bei der Sitte arbeiten.« Nightingale schauderte.
»Wäre auch nicht meine erste Wahl, schon gar nicht jetzt, wo die Kinder älter werden. Ich muss zu oft an sie denken, wenn ich diese Akten sehe.«
Fenwick bremste sich. Sie waren in die Art von halb privatem Gespräch abgeglitten, die früher zwischen ihnen ganz normal war. Er schob die Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin und her, ohne zu wissen, dass das bei ihm ein sicheres Zeichen für Verlegenheit war und dass die Aufgeweckteren in seinem Team es erkannten.
»Hör mal, Louise, es gibt da was, was ich dir schon länger sagen wollte.« Er hielt die Augen auf das Memo über Abfallrecycling gerichtet, das zufällig ganz oben lag.
»Dann sag es.«
»Es ist, äh, Na ja, also, es geht …«
»Um dein unberechenbares Verhalten mir gegenüber?«
Er sah sie an und wirkte fast erleichtert.
»Ja, genau.«
»Vergiss es.«
»Aber ich wollte … das heißt, es tut mir leid, wenn ich mich irgendwie … schlecht benommen habe.«
»Entschuldigung angenommen.«
»Einfach so?«
»Ja, wieso auch nicht? Andrew, vergessen wir’s, und schauen wir nach vorn.«
Fenwick sortierte die Papiere neu, ohne sie richtig wahrzunehmen. Schließlich sagte er: »Und das ist alles?«
»Reicht das nicht?«
»Na ja, du hast gar nichts über unsere … Freundschaft gesagt … außerhalb der Arbeit.«
»Und das werde ich auch nicht. Wenn du mir in den letzten paar Monaten eines beigebracht hast, dann, dass man Berufliches und Privates nicht miteinander vermischen sollte. Du kannst sicher sein, dass deine Botschaft angekommen ist.«
Sie sprach völlig sachlich, reserviert. Ihm wurde bewusst, dass sie nicht die Einzige war, die eine schmerzliche Erkenntnis hatte machen müssen.
Nightingale und Fenwick standen gleichzeitig auf und wären fast neben seinem Schreibtisch zusammengestoßen. Ein kurzes Anklopfen unterbrach ihre gegenseitige Verlegenheit, und eine Sekunde später kam Cooper zur Tür herein.
»Oh, Verzeihung.«
»Schon gut, wir sind gerade fertig. Worum geht’s?«
»Ich dachte, das sollten Sie sofort sehen.« Cooper reichte ihm eine Ausgabe des Sunday Enquirer .
Unter dem Wort »Exklusiv« stand die Überschrift: Der Tag , an dem mein Paul starb .Darunter folgte die Erläuterung: Ein Exklusivinterview mit der trauernden Mutter von Paul Hill , am Tag , an dem die Polizei den mutmaßlichen Mörder ihres Sohnes freigelassen hat : S . 5 , 7 , und 8 . Verdächtiger nach Polizeiverhör im Krankenhaus : S . 3 .
»Na toll! Das hat uns gerade noch gefehlt! Jetzt deuten die an, der Major hätte während seiner Vernehmung einen Herzinfarkt bekommen. Ich muss sofort mit Harper-Brown sprechen. Nightingale, ruf die Pressestelle an, die soll darauf reagieren. Dieser verdammte Jason MacDonald.«
»Aber er ist gut, das musst du zugeben«, sagte Nightingale wehmütig. Die Erinnerung daran, wie sie von ihm publizistisch ausgeschlachtet worden war, schmerzte noch immer. »Ich hätte gewettet, dass Sarah Hill niemals ein Interview über Paul gibt, erst Recht keins, in dem sie von seinem Tod ausgeht.«
»Ich bin nicht unbedingt in der Stimmung, mich bewundernd über die journalistische Chuzpe dieser Ratte zu äußern, wo gerade meine ganze Planung den Bach runtergeht, wie ich den Fall weiter anpacke. Das wird uns massiv behindern.«
Nightingale und Cooper traten den Rückzug an und hörten ihn noch halblaut fluchen, als sie schon die Tür hinter sich schlossen.
»Jetzt ist die Kacke am Dampfen«, sagte Cooper, und dann fiel ihm wieder ein, mit wem er redete. »Entschuldigung, das war unpassend.«
»Kein Problem. Ich halte das für die absolut treffende Beschreibung der Situation. Und ich vermute mal, daran wird sich im Lauf des Tages nichts ändern.«
Sie hatte Recht. Überall bekam das Team zu spüren, was die Zeugen, die sie vernahmen, von der Polizeiarbeit nach Pauls Verschwinden und der Festnahme und Wiederfreilassung
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