Sine Culpa
schnitt Paul sich selbst, fügte sich kleine Verletzungen an Armen und Beinen zu, die noch als Schürfwunden durchgingen, von angeblichen Stürzen mit dem Fahrrad.
Nachts hatte er das Messer unter dem Kopfkissen, damit es da war, wenn er schweißnass aus seinem Albtraum erwachte und es erst nach vielen Stunden hell wurde. Heute Morgen hatte er das Messer ganz unten in seine Schultasche gelegt und sein Ferienprojekt, die Lektüreliste und seine Sportsachen oben drauf gepackt.
Ein Lächeln verzog seine Lippen nach oben, als er die Hand tief an der Seite in die Tasche schob und den vertrauten Holzgriff berührte. Er ließ seine Finger dort, empfand es als tröstend, trotz der holprigen Fahrt und der stinkenden Abgase, von denen ihm schlecht wurde. Er schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken, was als Nächstes passieren würde. Paul sank in einen Tagtraum, in dem er Bryan mithilfe von eigenen Fotos, die er mit seiner heimlich gekauften Instamatik-Kamera gemacht hatte, zwang, ihn in Ruhe zu lassen. Die Kamera steckte in seiner Tasche gleich neben dem Messer, aber jetzt, da er mit der Wirklichkeit konfrontiert war, wusste er nicht, ob er den Mut haben würde, sie zu benutzen.
Der Wagen wurde langsamer, und sein Magen verkrampfte sich. Er hörte das vertraute Geräusch, als das große Tor sich öffnete, und er begriff, dass Bryan ihn angelogen hatte. Sie fuhren nicht einfach nur ein Stück tiefer in den Wald. Bryan hatte ihn zu Nathans Haus gebracht, obwohl Paul wusste, dass das nicht sein richtiger Name war. Er hätte am liebsten losgeheult. Er hasste »Nathan« noch mehr als Bryan, weil er trotz seiner schmächtigen Statur und seiner gepflegten Manieren ein sadistisches Schwein war. Das Tor fiel laut hinter ihnen zu. Während Bryan den Wagen langsam weiterrollen ließ, schob Paul vorsichtig die Hand unter der Decke heraus und zielte blind mit der Kamera, wie er hoffte durch das Heckfenster. Er drückte den Auslöser, drehte den Film weiter und drückte noch einmal.
Der Wagen hielt, Bryan stieg aus und ging weg, ohne ihn herauszulassen. Paul hörte Stimmengemurmel und setzte sich geduckt auf. Ohne hinzusehen, richtete er die Linse durchs Seitenfenster aufs Haus, wo die Männer standen, wie er vermutete. Er machte ein Foto und riskierte noch ein zweites, dann kam Bryan zurück. Als die hintere Tür aufgeschlossen wurde, war die Kamera schon wieder sicher in der Tasche verstaut.
»Lass die Tasche hier bei deinem Fahrrad.«
»Kann ich sie nicht mitnehmen? Da ist meine Hausarbeit und alles drin.«
Bryan zuckte die Achseln, als wäre es ihm egal, und Paul hängte sich die Tasche über die Schulter, die rechte Hand beiläufig an der Seite hineingesteckt. Das Haus war weitläufig, hatte einen parkähnlichen Garten und einen Swimmingpool. Als er das erste Mal hierhergebracht worden war, war er elf gewesen und ganz eingeschüchtert von dem prächtigen Anwesen. Jetzt kannte er das alles und dachte nur noch an das geschlossene Tor und die hohen Mauern.
Paul folgte Bryan über die Terrasse und einen großen, gepflegten Rasen zum Pool, der von einer Pergola umgeben war, die als Windschutz diente und gleichzeitig gegen Blicke abschirmte. Drei Männer lehnten an der Poolbar. Zwei waren sonnengebräunt und trugen schon Badehose. Der Dritte war ihr Gastgeber. Er erkannte Paul und winkte ihm zur Begrüßung.
»Paul. Schön, dass du uns mal wieder besuchst. Ich möchte dir meine Freunde vorstellen – Alec und Joe. Die beiden sind nur auf ein paar Tage zu Besuch. Ich hab ihnen alles von dir erzählt, und sie wollten dich unbedingt kennenlernen. Sag guten Tag.«
Paul blickte die Fremden an. Joe war groß und sah aus wie ein Filmstar. Er hatte sehr weiße Zähne und ein freundliches, verschmitztes Lächeln. Alec machte offensichtlich einen auf harter Mann. Er war klein und bullig und ignorierte ihn.
»Hier hast du was zu trinken, Cola mit Eis, das magst du doch, nicht?«
Er sah, wie die Männer Blicke wechselten, und wusste, dass ein ordentlicher Schuss Wodka drin sein würde. Er sollte das gar nicht wissen, war aber schon vor Jahren dahintergekommen. Der Alkohol benebelte ihn nicht mehr, solange er nur ein Glas trank, aber er half ihm, sich zu entspannen.
»Komm her, Paul.« Er trat zwischen die beiden Männer, und Joe legte ihm leicht einen Arm um die Schultern.
»Leg deine Tasche ruhig weg. Jetzt hast du sowieso keine Zeit für Hausaufgaben!«
Alle außer Alec lachten, und der Tragegurt wurde ihm von der Schulter
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