Sinfonie des Todes
ständig einen Konkurrenzkampf ausgetragen. Dir würde ich es zutrauen, dass du Wilhelm auf dem Gewissen hast. Du hast uns beiden das gemeinsame Glück nie gegönnt.«
»Gemeinsames Glück nennst du das?«, schnaubte Robert und wich ihrem zornigen Blick aus. »Gemeinsames Elend würde euer Leben besser beschreiben. Obwohl …« Robert wurde nachdenklich. Unvermittelt ergriff er die Hände seiner Schwägerin und schaute ihr tief in die Augen. »Lina, es fällt mir schwer, aber ich kann nicht mehr mit der Ungewissheit leben.« Sie hob erstaunt die Augenbrauen und entzog ihm ihre Hände.
Der Sektionsrat erhob sich und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Seine Lippen bebten. Mit den Armen herumfuchtelnd und beständig den Kopf schüttelnd, erläuterte er seine Befürchtungen. »Ich weiß nicht, ob ich etwas mit dem Tod meines Bruders zu tun habe.«
Lina horchte auf. »Was sagst du da?«
Robert presste eine Faust gegen die Wand. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Nacht, in der es passiert ist, Wilhelm getroffen habe oder nicht.«
»Wie kannst du dir nicht sicher sein?« Die Witwe runzelte ungläubig die Stirn.
»Ich war nicht bei Sinnen. In besagter Nacht habe ich ein spezielles Mittel zu mir genommen, das mir ein Kurgast empfohlen hatte«, umschrieb er vorsichtig seine damalige Situation. »Mir ging es nicht gut, du weißt schon.« Müde ließ sich der Sektionsrat auf den Stuhl sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Verstand nach der Einnahme dieser Droge für Stunden aussetzt. Ich kann nicht sagen, was ich in dieser Zeit genau gemacht habe. Jedenfalls sah ich deinen Mann in meinen Halluzinationen.« Robert sah seine Schwägerin verzweifelt an. »Oder real. Das weiß ich eben nicht.«
Seltsamerweise schien Lina sein Geständnis nicht allzu sehr zu beeindrucken. Sie hob kurz ihre Schultern und meinte lakonisch: »Ich kann dir da nicht helfen. Ich war ja nicht dabei.«
Robert sprang auf und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. »Begreifst du, was ich damit sagen will? Vielleicht habe ich Wilhelm ermordet!«
Lina entwand sich ihm. »Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wie gesagt: Ich kann dir nicht helfen. Und jetzt geh. Ich muss noch zu meiner Schneiderin.« Ostentativ blickte sie auf ihre Waterbury-Uhr.
Wie betäubt stand der Sektionsrat da. »Ich verstehe dich nicht, Lina. Ich habe dich noch nie verstanden.« Er ging in die Eingangshalle und griff nach seinem Hut und dem Mantel.
Lina kam hinter ihm her und blieb, die Arme verschränkt, im Türrahmen stehen. »Die Beerdigung ist voraussichtlich in zwei Tagen. Am Totensonntag.«
Robert sah kurz zu ihr hin, während er in seinen Mantel schlüpfte, und fragte: »Hast du genug Geld, um sie zu bezahlen? Oder brauchst du etwas?«
»Ich wäre froh, wenn du mir helfen könntest. Wilhelm – du weißt ja. Er spielte viel.« Unwillkürlich errötete Lina. »Ich habe mich bereits mit dem Pfarrer in Verbindung gesetzt und alles Notwendige mit ihm besprochen. Die Todesanzeige erscheint heute Abend, und wegen des Sterbebildchens habe ich mit der St.-Norbertus-Druckerei gesprochen.«
Robert nickte, setzte den Hut auf und zog den Schal enger um den Hals. »Gut. Bis bald, Lina.« Er streckte ihr seine Hand entgegen.
Lina ignorierte sie. »Ja, bis bald, Robert.«
Der Sektionsrat öffnete die Tür und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Als Robert gegangen war, zog Lina ebenfalls ihren Mantel an und trat ins Freie. In Gedanken war sie bereits bei ihrer Schneiderin und stellte sich vor, wie ihr Kleid für die Beerdigung aussehen sollte. Bald schon würde sie genügend Geld haben, um sich wieder das leisten zu können, was sie sich wünschte. Über Linas Gesicht huschte ein Lächeln.
12. Kapitel
Als Lina Fichtner die Schneiderei betrat, war sie wie immer fasziniert von der Fülle der verschiedensten Stoffe, deren Ballen sich an der Wand und auf den breiten Holztischen stapelten. In einer Ecke gewahrte sie durchsichtige Chiffons, daneben glatte, in Seide broschierte oder auf schwarzem und weißem Grund mit feinen Blumen gestickte Tülle. In einem anderen Winkel türmten sich mit Metallfäden durchwirkte Damaste in Lindgrün, Himmelblau oder Zartrosa, umrahmt von Samt- und Brokatstoffen. Sie ließ die Ecke eines Tuchs aus Batist durch ihre Finger gleiten und bewunderte die Qualität des feinfädigen und leichten Gewebes. So viele Träume und Illusionen lagen in dem Farbenspiel, das sich
Weitere Kostenlose Bücher