Sinfonie des Todes
ihr in diesem Raum offenbarte, so viele Enttäuschungen, die sie erlitten hatte und die immer noch an ihr nagten. Lina spürte einen Kloß im Hals, schluckte kurz und sah sich, die Schultern straffend, nach der Schneiderin um.
»Oh, guten Tag, Lina. Ich habe dich gar nicht kommen hören.« Emilie Flöge trat aus der Tür, die zum Hinterzimmer führte, und ordnete sich mit einer Hand die dicht gelockten dunklen Haare. »Schön, dich hier zu sehen. Es ist lange her.« Das weite Kleid der Frau tanzte bei jedem ihrer Schritte, doch sein enger Kragen schien den Hals unangenehm zuzuschnüren und das Atmen zu erschweren. Lina fiel sofort die fehlende Schleppe auf. Die Näherin bemerkte ihren Blick und lächelte. Sie hatte bewusst auf dieses Attribut verzichtet, da sie nicht mehr gewillt war, jeden Dreck und Schmutz von der Straße mit ihrem Rock aufzulesen und mit sich herumzutragen.
Lina trat auf Emilie zu und ergriff ihre Hände. »Ich freue mich sehr, dich wieder mal zu treffen.« Sie stockte. »Ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, aber mein Mann …« Flöge erschrak, als sie Linas Erregung wahrnahm. Sie drückte ihre einstmals beste Kundin auf einen Stuhl und setzte sich selbst auf die Kante des Schneidertisches.
»Erzähl! Was ist los? Hast du Kummer? Ist etwas passiert?« Liebevoll strich Emilie ihr eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus der kunstvoll hochfrisierten Haarpracht gelöst hatte. Lina wich bei der Berührung unwillkürlich zurück. Mit leiser Stimme berichtete sie, was geschehen war.
»Ach, du meine Güte. Du tust mir so leid, meine Liebe. Das muss ja schrecklich für dich gewesen sein, als du ihn gefunden hast.« Emilie erschauderte. »Ich möchte mir das gar nicht vorstellen.« Lina nickte und sah auf ihren Schoß.
Die Schneiderin ließ sich vom Tisch gleiten und fragte mitfühlend: »Kann ich etwas für dich tun?«
Lina sah auf. »Ja, ich habe eine Bitte an dich.« Sie erhob sich, trat an eine offene Holztruhe, deren Kanten mit Leder eingefasst waren, und tauchte ihre Hand in die Spitzen, die sich darin befanden: leicht rosafarbene und weiße aus Brüssel und Brabant sowie kostbare schwarze Klöppelarbeiten aus Caen. Armüren und wunderbar feine Gipüren schmiegten sich um die Finger der jungen Frau. Lina lächelte unwillkürlich, als sie sich Emilie zuwandte.
»Ich hätte gern ein Kleid für die Beerdigung«, kam sie auf ihr Anliegen zu sprechen. »Eins, das du genäht hast.« Sie trat auf die Schneiderin zu. »Ich habe gehört, dass du neue Schnitte verwendest, die anders sind als diejenigen der Mode aus Paris. Stimmt das?«
Emilie nickte. »Ja, ich habe da so einige Ideen im Kopf und auch schon die eine oder andere umgesetzt wie auch andere Künstler der Secession. Die Ärmel der Gewänder sind bequem und weit und hängen lose von den Schultern herab. Und man trägt kein Korsett mehr dazu.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Diese engen Dinger haben mich immer am meisten gestört. Ich möchte atmen können, wenn ich mich bewege, und ich habe keine Lust, ständig mit der Angst zu leben, im nächsten Augenblick in Ohnmacht zu fallen. Leider denken noch nicht viele so.« Emilie kramte in einem Regal herum. »Schau, hier ist so ein Kleid.« Sie gab es Lina, die es interessiert von allen Seiten betrachtete.
»Könntest du mir ein solches Trauerkleid machen?«, erkundigte sich die Witwe.
Emilie nahm das Gewand wieder an sich. »Natürlich ist das kein Problem, wenn du das wirklich möchtest. Du musst dir aber bewusst sein, dass nicht jedermann eine solche Aufmachung goutieren wird, besonders nicht zu einer Beerdigung.«
Mit einer trotzigen Handbewegung wischte Lina die Bedenken beiseite. »Ich will mich nicht mehr in die Schablonen der Gesellschaft pressen lassen.«
Nachdenklich sah die Schneiderin sie an.
»Gut«, meinte sie endlich, »dann würde ich vorschlagen, dass ich dazu schwarzen Samt verwende. Solchen zum Beispiel.« Emilie nahm einen Stoffballen und breitete das glänzende Gewebe auf dem Schneidertisch aus. Die Witwe strich mit ihren Fingern darüber und nickte.
»Ja, der ist wunderschön. Und die Unterröcke aus Seide und Tüll, was meinst du?«
»Das würde gut passen, stimmt. Am Saum des Kleids und an den Ärmeln könnte ich Chantillyspitze ansetzen. Diese hier.« Emilie griff in die Truhe, nahm ein Stück der Kostbarkeit heraus und gab es Lina, deren Augen aufleuchteten, als sie die Spitze entgegennahm.
»Oh, ja«, hauchte sie entzückt.
Die Schneiderin
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