Sinfonie des Todes
einem Bauchgefühl heraus erwähnte er zudem das Kassenbuch, das ihm irgendwie seltsam erschien. Er hielt seine Ausführungen vage, machte bloß einige Andeutungen, um sich ja nicht in etwaigen Fallstricken zu verfangen. »Mehr kann und darf ich dir nicht sagen, Robert«, schloss er endlich. »Das verstehst du doch?«
Der Sektionsrat blickte wieder auf seine Füße hinab und überging die Frage. »Wie weit sind sie schon?«, meinte er mit einem Kopfnicken in Richtung Spitalkomplex.
»Bald mit der Nachsorge fertig. Geh doch was essen, Robert. In zwei, drei Stunden wird dein Bruder für die Aufbahrung hergerichtet sein.«
»Zwei, drei Stunden«, wiederholte Fichtner. »Hm, gut. Ich danke dir, Cyprian.« Er zog sich den Schal fester und reichte Warnstedt die Hand.
Sie verabschiedeten sich, und als sich der Gendarmerie-Inspektor nach einigen Schritten umwandte und einen kurzen Blick auf den Sektionsrat riskierte, sah er diesen einsam und gedankenverloren noch immer auf dem Platz stehen.
11. Kapitel
Die mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Türen des Schrankes standen weit offen. Neben Lina, die fieberhaft im Kasten herumwühlte, lagen einige Kleider auf dem Boden, andere häuften sich auf dem Bett oder im Sessel. Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie richtete sich lächelnd auf und hielt ein blassblaues Gewand in die Höhe. Es reichte bis zum Boden und war ab den Knien weit ausgestellt. Um die Taille schmiegte sich eine lange Schleppe aus dunkelblauem Samt, die in kostbarer Spitze endete.
Lina schloss die Augen und drückte das Kleid sanft an ihre Brust. Sie hatte es früher oft getragen, manchmal in schönen Situationen, einige Male auch in schwierigen, aber immer mit einer Leichtigkeit im Herzen, die ihre unbeschwert kindliche Ausstrahlung unterstützt hatte, im Laufe der Jahre jedoch einer trauernden Schwere der Sehnsucht gewichen war. Damals, frisch verheiratet, hatte sie sich frei, stark und unbekümmert gefühlt. Sie hatte ihren Mann, der aus angesehenem Haus stammte, geliebt und bewundert, aber vor allem hatte sie auf die Zukunft gehofft und darauf vertraut, dass Wilhelm eines Tages all ihre Wünsche erfüllen und ihr das Leben bieten würde, das sie sich schon als Kind erträumt hatte – ein Leben, das aus gesellschaftlichen Anlässen, Bällen, interessanten Gesprächen und ausgiebigen Mahlzeiten bestehen sollte. Sie hatte sich im Mittelpunkt gesehen, als strahlende, geheimnisvolle Schönheit, eingehüllt in die wertvollsten Kleider. Beliebt. Begehrt.
Langsam wiegte sich Lina, das Kleid in ihren Armen, hin und her. Sie stellte sich einen hell erleuchteten Saal vor, in dem ein paar Musikanten ihren Instrumenten wundervolle Töne entlockten. Der Raum war erfüllt von Menschen, die sich auf der Tanzfläche drehten, lächelnd, und einander liebliche Worte ins Ohr flüsterten. Und mittendrin sie. Sie und Wilhelm.
Lina zog sich das Kleid über den Kopf und drapierte es über die seidenen Unterröcke, die sie trug. Sie streckte ihre Arme nach hinten, um die Haken am Rücken zu schließen, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie schaffte es nicht, einen davon in die Finger zu bekommen. Immer wieder versuchte sie es, immer verzweifelter, immer ungeduldiger, bis sie den Arm derart verdrehte, dass sie vor Schmerz aufschrie. Schluchzend ließ sie sich aufs Bett fallen und verbarg ihr Gesicht in den Kissen.
Wilhelm hatte versagt.
Das Geld, das er als Ministerialbeamter verdiente, reichte nirgends hin. Er konnte ihr nur wenig von dem erfüllen, was sie sich wünschte, was sie forderte. Lina entzog sich ihm daher immer mehr, ließ ihn spüren, dass er sie eigentlich nicht verdiente. Zumindest nicht auf diese Weise. Ihre Liebe schlug langsam in Verachtung um. Je mehr er verlor, desto weniger konnte er den Anforderungen seiner Frau gerecht werden.
Sie musste Personal entlassen, fing an, das Haus zu vernachlässigen, das sie zunächst so geliebt hatte, das aber für sie mit der Zeit zu einem Gefängnis geworden war. Als sie sich schließlich gezwungen sah, auch ihre Zofe gehen zu lassen, hatten sie und Wilhelm nur noch sich selbst. Sie konnte ihre kostbaren Kleider nicht mehr anziehen, da sie die Hilfe einer anderen Person gebraucht hätte und ihr Mann dafür nicht infrage kam, und war daher genötigt, Gewänder zu tragen, in denen sich eigentlich nur ärmere Frauen auf die Straße und unter die erbarmungslosen Blicke der Leute wagten. Sie blieb immer öfter zu Hause, fühlte sich einsam und von ihrem
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