Sinfonie des Todes
Freude, ihren Vater wiederzusehen. Im Hintergrund flackert ein warmes Feuer, über dem ein Topf voll duftendem Essen hängt. Die Familie setzt sich an den gedeckten Tisch und erzählt sich ihre Erlebnisse des Tages.
Allmählich verwandelte sich das Gesicht der Frau in das von Lina. Der Mann wurde Gustav selbst, und die Kinder erkannte er als seine eigenen.
Widerwillig schüttelte er die Vorstellung von sich ab und überquerte die Straße. Das Anwesen der Nachbarn schien tatsächlich völlig verlassen zu sein. Nichts rührte sich neben den Mauern oder hinter den leeren Fensterhöhlen. Wissel trat auf die Vorderseite des Hauses zu und spähte durch ein Loch, das in die Wand geschlagen worden war. Im Innern türmte sich der Schutt, Flaschen lagen herum. Als er einen Moment gelauscht hatte, ohne sich zu rühren, schlich er an der Wand entlang und schlüpfte durch die Öffnung, in der einmal eine Tür gehangen hatte.
Seine Schritte hallten unangenehm laut in dem leeren Raum. Die Dämmerung schickte die letzten schwachen Lichtstrahlen durch die Mauerlöcher, doch die Schatten nahmen immer mehr überhand und verschluckten nach und nach alle hellen Flecken. Irgendwo raschelte es; ein leises Fiepen verriet die Anwesenheit einer Maus oder Ratte.
Gustav stieg vorsichtig über die verstaubten Steine und den knirschenden Baustellenabfall bis zu einer der Fensterlücken. Voller Vorfreude sah er hinaus, doch leider musste er feststellen, dass ihm eine Hecke die Sicht auf Linas Haus verwehrte. Also tastete er sich weiter die Mauer entlang bis zu einer anderen Öffnung. Doch auch von da aus konnte er nichts erkennen. Gustav begriff, dass er in die oberen Räume steigen musste, wenn er Lina noch einmal zu Gesicht bekommen wollte.
Sein Fuß trat auf etwas Festes, Rundes. Er bückte sich und fühlte erfreut eine dicke Kerze unter seiner Hand. Daneben lagen mehrere kleinere Stummel, die Stelle am Boden war mit Wachs übersät und schimmerte im spärlichen Licht, das von draußen durch das Loch fiel. Gustav suchte nach Streichhölzern, fand eine Schachtel in seiner rechten Hosentasche und entzündete eines davon. Er hielt den Docht der Kerze daran und wartete, bis dieser aufflammte und sich ein heller Schein über die Wand ergoss. Plötzlich durchfuhr ihn ein erschreckender Gedanke: Was, wenn man das Licht von außen sehen konnte? Eine Weile überlegte Wissel hin und her, doch er hatte nicht den Mut, die Kerze mitzunehmen. Seufzend blies er sie wieder aus und stand für einen Moment in absoluter Dunkelheit. Stolpernd bahnte er sich den Weg durch das Zimmer und hoffte, bald auf eine Treppe zu stoßen, die in die oberen Räume führte.
Endlich nahm er vor sich ein schwaches Licht wahr, das aus einer Öffnung in der Decke zu kommen schien. Einige Stufen wiesen den Weg nach oben, und Gustav setzte schon einen Fuß auf die erste, als ihn ein Geräusch verharren ließ. Seine Nackenhaare stellten sich auf, als er in die Dunkelheit hineinlauschte und Schritte über seinem Kopf zu vernehmen meinte.
Er wusste nicht, was er tun sollte. Einerseits war sein Wunsch, Lina noch einmal sehen zu können, so stark geworden, dass es ihn hinaufdrängte; andererseits verspürte er Angst davor, sich dem zu stellen, was ihn oben erwartete. Angespannt horchte er ein paar weitere Augenblicke. Doch er vernahm nichts Verdächtiges mehr. Nur die Blätter der Bäume, die sich im Wind bewegten, raschelten leise, und ein Vogel sang sein Lied der Nacht. Keine Schritte, die die Anwesenheit eines Menschen – oder von etwas anderem – verrieten. Hatte er sich getäuscht? Vorsichtig stieg Gustav Stufe um Stufe die Stiege hinauf. Er wagte kaum zu atmen, Schweiß stand ihm auf der Stirn, der unangenehm unter dem Hutrand brannte. Als sich seine Augen über dem Rand des Loches im Boden befanden, lugte er nervös in den Raum, der sich vor ihm auftat. Er wäre vor Schreck fast wieder hinuntergestürzt: Vor einer Fensteröffnung rechts von ihm erblickte er die stämmige Silhouette eines Mannes.
Unwillkürlich schrie er auf, als eine Maus an seiner Nase vorbeihuschte, und er gewahrte voller Entsetzen, dass sich der Schatten nun bewegte und langsam auf ihn zukam. Unfähig, sich zu bewegen, verharrte Wissel an Ort und Stelle und erwartete ergeben sein Schicksal. Es wunderte ihn nicht einmal sonderlich, als er den Lauf einer Pistole im Mondlicht aufblitzen sah.
»Bewegen Sie sich ganz langsam nach oben«, sprach ihn die Gestalt mit tiefer Stimme an. Gustav erklomm zitternd
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