Sinfonie des Todes
darstellen sollte. Er klaubte das Bild mit zitternden Fingern heraus und betrachtete es. Wissel hatte es vor ein paar Monaten selbst gemalt, heimlich, als sich seine Angebetete zufällig im selben Kaffeehaus wie er befunden hatte.
»Meine Lina«, flüsterte er und küsste das bewegungslose Gesicht, das ihn unverwandt ansah, ohne ihn wahrzunehmen. Die Sehnsucht nach dieser Frau wurde so stark, dass Gustav sich entschloss, endlich zu handeln. Wilhelm war tot und konnte ihm nicht mehr in die Quere kommen. Lina sollte nun erfahren, was er für sie fühlte und was er bereit war, für sie zu tun.
Lächelnd stand er auf, trat ans Fenster, schaute hinaus und beobachtete das Geschehen auf der Straße, was ihm zu einer lieben Gewohnheit geworden war, um die vielen einsamen und öden Stunden, die er in der Wohnung verbrachte, zu verkürzen. Mit Schrecken wurde er einer ihm wohlbekannten Person gewahr, die schnellen Schrittes auf die Tür seines Hauses zuging. Gustav riss das Fenster auf und schrie hinaus: »Was willst du hier, Felix? Verschwinde!«
Der Angesprochene hob den Kopf und sah zu ihm empor. »Ah, Herr Wissel!«, rief er, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. »Da sind Sie ja. Lassen Sie mich bitte hinein. Menger schickt mich.«
Gustav seufzte und winkte ihn schließlich widerwillig herauf. Er begab sich in den Flur und öffnete die Eingangstür. Felix war der Gehilfe im Trödelladen, in dem er arbeitete, und er wusste, warum dieser sich die Mühe gemacht hatte, ihn aufzusuchen. Während er auf den Jungen wartete, überlegte er sich, was er ihm sagen sollte. Schritte ertönten auf der Treppe und wenige Augenblicke später erschien der Lockenkopf von Felix zwischen den Stäben des Geländers.
»Herr Wissel, entschuldigen Sie die Störung«, begann dieser, als er außer Atem oben angekommen war. »Aber Herr Menger ist so wütend und hat mich angeschrien und meinte, ich müsse sofort zu Ihnen laufen, um Ihnen zu sagen, dass Sie in den Laden kommen sollen. Er hat so böse geguckt, Herr Wissel. Da musste ich gehen. Ich hoffe, Sie verstehen.« Ein flehender Ausdruck war in das spitzbübische Gesicht des Jungen getreten, in dessen hellblauen Augen normalerweise der Schalk blitzte.
Gustav konnte sich lebhaft vorstellen, wie der Wutausbruch seines Vorgesetzten ausgesehen haben mochte. Er hatte sich schon seit zwei Tagen nicht mehr an der Arbeitsstelle blicken lassen und konnte selbst nicht genau erklären, warum er es versäumt hatte hinzugehen. Eine unüberwindbare Blockade hatte ihn daran gehindert. Seine Gedanken drehten sich im Augenblick nur um Lina, und es erschien ihm unmöglich, zwischen all dem muffigen Ramsch zu stehen und vielleicht Möglichkeiten, seiner Geliebten nahe zu sein, zu verpassen.
»Melde mich krank, Felix. Ich komme nächste Woche wahrscheinlich auch nicht. Mir geht es nicht gut.« Wissel versuchte, möglichst leidend auszusehen. »Und nun geh, Felix. Ich muss mich ausruhen.«
Der Gehilfe nickte beflissen. »Natürlich, Herr Wissel. Ich hoffe, es geht Ihnen bald besser. Auf Wiedersehen, Herr Wissel. Und noch einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.« Felix verbeugte sich leicht und verschwand im Dunkel des Stiegenhauses.
Gustav schloss erleichtert die Tür. Als er sich zurück ans Fenster begab, stellte er sich die immer gleiche Frage: »Wird mich Lina je lieben?«
Die Äste der Linde neben Fichtners Haus wiegten sich im Wind. Letztes Laub fegte über das hohe Gras der Wiese, eine Taube gurrte einsam auf dem Dachfirst.
Lina, die von der Schneiderin zurückgekehrt war, bückte sich und hob ein verwelktes Blatt auf. Sanft legte sie es in ihre Handfläche und fuhr vorsichtig mit einer Fingerspitze die dunkelbraunen Adern entlang. Sie spürte die Zartheit und Verletzbarkeit des Blattes, dessen Oberfläche sich fest und zugleich spröde anfühlte. Langsam zerbröselte sie es schließlich zwischen ihren Fingern und warf die einzelnen Stücke in die Luft, wo sie umgehend vom Wind gepackt und davongetragen wurden. Leichtigkeit erfüllte ihr Herz. Sie begann sich zu drehen, das feuchte Gras schlug ihr an die Beine und durchnässte ihr Kleid, doch sie achtete nicht darauf, wirbelte herum und raffte den Rock zusammen, um sich besser bewegen zu können.
Da hörte sie hinter sich eine leise, unsichere Stimme. »Sie sind wie ein Kind, Lina, ein liebenswertes Kind.« Jäh blieb sie stehen und sah sich um. Am Geländer der Treppe, die zur Veranda führte, lehnte Gustav Wissel und beobachtete sie.
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