Sinfonie des Todes
Repräsentationsbedürfnis anging, so passte die groteske Kutsche perfekt zu ihr und ihrem mondänen, maßgeschneiderten Trauerkleid.
Robert sah schon die Schlagzeilen des nächsten Tages. Er war eine schöne Leich, würde wohl der tröstliche Befund der Skribenten lauten, oder einer der Redakteure würde einen alten Gassenhauer zitieren: ›Verkaufts mei Gwand, i fahr in’ Himmel!‹ Fichtner zuckte schaudernd zusammen, als er sich die Nachrufe ausmalte, einer geschmackloser als der andere.
Die beiden Pferde des Leichenwagens trotteten los. Die Witwe setzte sich in den Benz, mit dem Stephan Schrader vorgefahren war. Die Trauergemeinde schloss auf, anfänglich als ungeordneter Haufen, doch nach wenigen Schritten fand man sich zu Zweiergruppen. Der Sektionsrat bildete mit dem ebenfalls anwesenden Arthur Schnitzler, den der Zufall neben ihn gestellt hatte, ein Paar. Zum Glück regnet es nicht, dachte Robert, als in ihm ein Hustenreiz aufkeimte, den er gerade noch zu unterdrücken vermochte. Er schaute zum Himmel, der bewölkt war, aber die Sonne nicht am Durchbrechen hindern konnte.
Als der Leichenzug seinen Anfang nahm, ging noch alles in relativer Schnelligkeit vonstatten. Man trödelte nicht, folgte tapfer den irdischen Resten Wilhelm Fichtners auf ihrem letzten Gang und hing seinen Gedanken nach. Mag sein, dass sich der Tod in Wien recht heimisch fühlt – jedenfalls gingen die Überlegungen so mancher Anwesenden in diese Richtung, und bald einmal sahen sie sich in ihren Ansichten bestätigt. Denn als ihr Zug die Hauptstraße nach dem Simmering eingeschlagen hatte und endlich auf offenem Felde war, wurde es offenbar, dass der Sensenmann zweifellos ein Österreicher sein musste: In Hundertschaften verstopften die trauernden Familien anderer Todesfälle den Weg. Es existierte keine Bahnlinie zum Friedhofsgelände, und jedes letzte Geleit führte somit zwangsläufig an Weideflächen und arbeitenden Bauern vorbei, denen der nie versiegen wollende Fluss an Passanten ein Dorn im Auge war.
»Eine unwirkliche Szenerie«, bemerkte Schnitzler. Fichtner konnte dem nur zustimmen.
Leichenwagen reihte sich an Leichenwagen. Sie kamen an Häusern mit morschen Schindeln vorbei und sahen sich vom Gestank der nahen Schlachthäuser umnebelt. Mehr als zwei Stunden dauerte die mühsame Prozession. Als sie die ersten quadratisch angelegten Gräberreihen erreicht hatten, waren einige der Trauernden bereits stark entkräftet. Viele der Gäste hatten an den Wegrand uriniert. Das war unschicklich, aber wohl unvermeidlich.
Als der Pfarrer, flankiert von den beiden Messdienern, neben dem ausgehobenen Grab stand, in welches die Träger den Sarg bereits hinabgelassen hatten, sah sich Robert Fichtner gezwungen, sich neben seine Schwägerin zu stellen. Lina bedachte ihn mit einem kurzen unergründlichen Blick und faltete die Hände. Mit zusammengekniffenen Lippen dachte Robert an früher, an die Zeit, in der diese kaltherzige Frau sich auf seine Kosten lustig gemacht und ihn mit weiblicher Inbrunst verspottet hatte. Kurz nachdem der Tuberkuloseverdacht bestätigt worden war, hatte sich Lina zu dem geschmacklosen Scherz hinreißen lassen, ihm einen Strauß Kamelien in die Wohnung zu senden. Dies war die letzte Eskapade gewesen, die sie sich geleistet hatte, und Fichtner hatte bis auf Weiteres mit ihr und mit seinem Bruder gebrochen.
Nun standen sie also nebeneinander. Diese Frau mit ihrem mitunter so schamlosen und zynischen Benehmen löste in ihm eine Abscheu aus, die er noch selten bei einem Menschen erlebt hatte. Kein Leiden malte sich auf ihrem Gesicht, keinerlei Anzeichen irgendwelcher Gefühle, mochten sie echt sein oder auch geheuchelt. Er selbst beklagte Wilhelms Ableben. Doch die Trauer, die ihn eigentlich erfasst haben sollte, wusste sich nicht Bahn zu schaffen. Es war etwas Befangenes in ihm, und so schluckte er hart und folgte stumm dem Geschehen.
»Aus Staub bist du erschaffen, zu Staub wirst du zerfallen«, waren die Worte des Priesters zu vernehmen, der mit einer Holzschaufel ein Häufchen Erde ins Grab fallen ließ.
Die Anwesenden bekreuzigten sich; selbst Schnitzler, der Jude, betete mit stillen, gemurmelten Worten.
Die Gedanken des Sektionsrats schweiften ab. Er sah die Leute um sich, die ergriffen den geheiligten Abläufen folgten. Er sah das drohende Loch zu seinen Füßen, klaffend wie eine dunkle, finstere Wunde im Leib der Erde. Und er sah den Sarg, den das Erdreich aufgenommen hatte. Der Tod hatte etwas
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