Sinnliches Erwachen
und ging zu ihrem Schreibtisch, um den Hörer abzunehmen. „Buchhaltung.“ Als sie sich auf ihren Stuhl sinken ließ, zwirbelte sie die Schnur zwischen den Fingern. „Also, Sie haben aber wirklich eine bezaubernde Stimme.“ Bei dem darauffolgenden albernen Kichern wäre Nicola am liebsten im Boden versunken. „Ja, genau. Moment. Ein bisschen langsamer, damit ich jedes fesselnde Wort mitschreiben kann.“
Nicola wandte sich Jamila zu, die immer noch stand und offensichtlich Mühe hatte, ihre finsteren Emotionen in den Griff zu bekommen. „Ich werde nicht fragen, worum es da gerade ging, aber ich werde erst morgen am späten Vormittag wieder hier sein. Alles, was ich will, ist, dass ihr beide hier in der Zwischenzeit keine Katzenbabys fresst, Hundewelpen an die Wand schmeißt oder Kaninchen rupft, nur um einander eins auszuwischen.“
„Wo willst du hin?“, fragte Jamila fordernd und ignorierte die Beleidigung völlig. „Du hast erst in drei Stunden und acht Minuten Feierabend.“
Wie süß. Die vielversprechendste Anwärterin auf den Titel „Nutzloseste Mitarbeiterin des Jahres“ stellte Nicolas Arbeitsmoral infrage. „Nicht dass es dich etwas angehen würde, aber ich gehe jetzt nach Hause. Und zwar mit Erlaubnis, vielen Dank auch.“
„ Warum gehst du nach Hause? Und warum nimmst du diese Unterlagen mit?“
„Noch mal: Das geht dich nichts an. Und irgendjemand muss sich ja um die Arbeit kümmern.“ Das war’s mit ihrer übersprudelnden Vorfreude auf die Ankunft ihrer Schwester. Jetzt verströmte sie pure Verärgerung.
Jamila verengte die goldenen Augen. „Ich kann auch rechnen, und dafür bin ich doch hier, oder?“
„Keine Ahnung. Bist du? Bisher hast du’s jedenfalls nicht getan.“
Ein Knacken mit dem Kiefer. „Gib schon her.“ Die schöne Schwarze packte den Schulterriemen der Tasche, bevor Nicola noch etwas erwidern konnte. „Ich sehe zu, dass das erledigt wird. Und zwar ordentlich“, spie sie in Sirenas Richtung, die immer noch kichernd am Telefon hing.
„Nein, ich …“ Nicola presste die Lippen aufeinander. Koldo hatte ihr ein stressfreieres Leben verordnet. „Also gut. Lass mich … einfach nicht hängen, bitte.“
„Ich bin keineswegs unzuverlässig“, fauchte das Mädchen sie an.
Hatte sie eigentlich noch nie davon gehört, dass man auch anders mit Leuten reden konnte?
„Danke“, schloss Nicola knapp und rauschte aus dem Büro.
„Warte. Nicola“, rief Sirena ihr hinterher, und sie blieb stehen. Die Blondine knallte den Hörer auf.
Ungeduldig ging Nicola ein paar Schritte zurück. „Ja?“
„Ich helfe Jamila natürlich gerne bei der Arbeit.“ Sirena warf Jamila ein zuckersüßes Lächeln zu, während die mit den Zähnen knirschte. „Da du hier die Dienstälteste bist, hätte ich gern deine Erlaubnis, die Hälfte der Fälle selbst zu übernehmen.“
„Klar, kein Problem.“
Und während es Jamila anscheinend vor Wut die Sprache verschlug, machte Nicola sich davon.
Das Bürogebäude war kreisförmig angelegt, mit verworrenen Fluren, unzähligen Büros und sehr wenigen Ausgängen. Die Aufzüge waren immer vollgestopft, und Nicola hasste es, sich wie eine Sardine in der Büchse einsperren zu lassen, während die unterschiedlichsten Parfüms um die Trophäe als „Penetrantester Duft der Woche“ wetteiferten – aber die Treppen waren zu viel für sie. Sie war im zwanzigsten Stock, auf halbem Weg nach unten würde sie in Ohnmacht fallen.
Als sie schließlich in der Tiefgarage ankam, war sie mit ein paar Schritten bei ihrem klapprigen alten Auto, das fehl am Platz wirkte unter den neueren Modellen, die sonst hier standen. „Schrottkiste“ hatte sie die Rostlaube getauft, die auf dem Altmetallhof wesentlich besser aufgehoben gewesen wäre als auf der Straße. Sie startete den Motor und setzte nach der erwarteten Fehlzündung den Fuß aufs Gaspedal – nur um ihn sofort wieder auf die Bremse zu rammen.
Ein Monster stand direkt vor der Motorhaube.
Panisch schrie sie auf und schlug sich eine Hand auf das hämmernde Herz. Das Wesen war ein Musterbild an entsetzlicher Hässlichkeit, mit dem Körper eines steroidverliebten Mannes und einem gekrümmten Horn auf der rechten Seite seines Schädels. Ursprünglich musste er zwei gehabt haben. Auf der linken Seite war ein Stumpf zu sehen. Seine Haut war mit Fell überzogen, und seine Augen schimmerten so finster wie ihr schlimmster Albtraum.
In der Parodie eines Grinsens zog er die Lippen von den Zähnen zurück
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