Sintflut (German Edition)
spricht alle harten Konsonanten weich und dehnt alle ›g‹ in End- oder Mittelstellung zum ›ch‹. Es gibt noch andere Feinheiten, etwa das prolabierende L, aber das kann man nicht beschreiben, das muss man gehört haben. Oder gesehen, denn wenn es zum L kommt, zieht der Franke beide Mundwinkel weit nach unten, wodurch er mürrischer wirkt, als er in Wirklichkeit ist.
Auch Jakobi fränkelt munter vor sich hin. »Verehrde Damen und Herren«, sagt er mit gedehnter Stimme, »ich dange Ihnen allen für ihr Inderesse an unserer diesjährichen Sommeragademie. Ich darf Ihnen nun unseren Referenden, Herrn Brofessor Dr. Dr. Oddo Gobbl, vorschdellen, der eigens für diesen Vordrach seine wohlverdienden Ferien underbrichd und vom schönen Diddisee sozusachen mit leichdem Gebäck zu uns nach Erlangen gegommen isd.«
Es folgen Goppels Vita, die Stationen seiner wissenschaftlichen Karriere von der Habilitation bis zu seinem Ruf als Professor für die Vor- und Frühgeschichte Osteuropas. Goppel ist ein international anerkannter Experte für die Kunst des Neolithikums und hat sich mit zahlreichen Publikationen einen Namen gemacht. Sein Hauptwerk ist das dreibändige Handbuch der Jungsteinzeit , ein Standardwerk, das auch Paulas Forschungsgebiet, die Hamangia-Kultur, umfasst. Dann ist die Vorstellung vorbei, und Goppel erhebt sich langsam von seinem Platz in der ersten Reihe.
Es gibt Menschen, die allein schon wegen ihrer Körpergröße gewinnen: bei Frauen, im Beruf, in der Öffentlichkeit. Dann gibt es Menschen, denen das noch nicht reicht. Sie bauen ihren natürlichen Vorteil durch konsequente Arbeit an ihrer Erscheinung immer weiter aus. Sie sind süchtig nach sich selbst und brauchen den öffentlichen Auftritt wie ein Junkie seinen Stoff. Professor Goppel ist so ein Mensch. Das sehe ich sofort, als er das Podium ansteuert. Sein energischer Schritt, sein silbergraues Senatorenhaar und seine kraftvolle Stimme erzählen die Geschichte eines Mannes, der alles erreicht, was er erreichen will.
Die Stimme macht aus mir ein kleines Mädchen, das mit großen Augen einem Märchenonkel lauscht. Was er auch sagt, ich will es wissen. Und ich werde nicht enttäuscht. Keinen Moment ist mir langweilig, denn in seiner Rede kommt alles an Reizworten vor, was die Archäologie für Laien so spannend macht: Jagdmagie, Fruchtbarkeitskult, dicke Schenkel und natürlich der unvermeidliche Stierkopf, der die weiblichen Geschlechtsorgane verkörpern soll, die Fachwelt streitet noch.
Nach dem Vortrag bittet Goppel um Fragen. Das ist eigentlich mehr eine Formsache, eine akademische Tradition, der immer gefolgt wird, wenn auch meist halbherzig und etwas gequält. Heute meldet sich eine junge Frau mit grün gefärbtem Haar zu Wort.
»Professor Goppel, woher weiß man überhaupt, wie die Steinzeitkunst zu verstehen ist?«, fragt sie etwas atemlos.
Goppel gehört zu einer Generation, die noch stutzt, wenn jemand grüne Haare hat. Aber dann fängt er sich und lächelt sie an. »Das ist eine gute Frage, junge Frau, und ich will den Archäologen sehen, der nicht ins Grübeln kommt, wenn sie gestellt wird. Unser Wissen, meine Damen und Herren«, und damit wendet er sich wieder uns allen zu, »ist wie ein altes, ehrwürdiges Haus. Jahrhundert um Jahrhundert wurde daran gebaut. Emsige Männer und hmmm… Frauen haben keine Mühen gescheut, Stein auf Stein zu schichten. Die Ersten legten bloß die Fundamente, doch auch wir heutigen Forscher sind noch lange nicht beim Dachfirst angekommen. Möglicherweise wird keiner von uns je die Vollendung des Baus erleben.«
Die Zuhörer klopfen Beifall. Goppel verbeugt sich. Er bittet um weitere Fragen, aber es kommen keine mehr. Dann ist allgemeiner Aufbruch, und während ich zur Tür hinaus den langen Flur hinunter gehe, verdaue ich den Auftritt. Die Geschichte von dem alten, ehrwürdigen Haus hat mich von meiner Schwärmerei für den netten Märchenonkel geheilt.
»Wissenschaft ist wie eine Bruchbude, die immer wieder abgerissen und durch eine neue ersetzt werden muss«, hätte Paula gerufen, wenn sie hier wäre. Das ist auch das Problem, das die beiden haben. Ein Mann wie Goppel verträgt keinen Widerspruch, schon gar nicht, wenn er von einer Frau kommt, so jedenfalls sieht es Paula. Aber ihre Kritik geht noch viel weiter. In ihren Augen ist ihr Chef ein Opfer primitiver Reflexe. Wird er angegriffen, verteidigt er sich und wehrt sich gegen neue Einsichten. Bis heute bestreiten Wissenschaftler ja sogar die
Weitere Kostenlose Bücher