Sintflut (German Edition)
Evolutionstheorie. Wenigstens wagt niemand mehr zu behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist.
Goppel denkt, unsere Vorfahren waren abergläubische Wilde, für die ein Stierkopf die Geschlechtsorgane der Frau symbolisiert. Aber wie konnten die Leute davon etwas wissen? Sie müssen eine Tote aufgeschnitten und nachgeschaut haben. Wenn das heute jemand tut, dann nennen wir das forschen und verstehen. Und nicht nur das: Von den Geschlechtsorganen der Frau bis zum Symbol des Stierkopfs ist es gedanklich ein weiter Weg. Wir nennen ihn Abstraktion. Kann der Mensch forschen, verstehen und abstrahieren, aber gleichzeitig ein abergläubischer Wilder sein? Kann er nicht. Und wenn ich das weiß, dann weiß Goppel das auch. Und trotzdem redet er so ein Blech daher.
6
Ich bin eine halbe Stunde zu Hause, da klingelt es an der Tür. Wer wird das sein? Es ist Max, der sich einen Scherz erlaubt, denn natürlich hat er einen Schlüssel. Er kommt auch gar nicht rein, sondern bleibt wie ein Staubsaugervertreter draußen stehen.
»Gestatten, Max Adler, Sicherheitsberater. Darf ich Sie heute Abend in das teuerste Restaurant der Stadt einladen?«, sagt er und in dem Moment weiß ich: Er hat Rumänien geschluckt und ist wieder auf meiner Seite. Seine Augen begrüßen mich mit dem Blick eines Mannes, an dem seit Stunden der Hunger nagt. Umso ungewöhnlicher ist seine Einladung, denn Max hasst Feinschmeckerlokale, weil er nur zur Hälfte satt wird und trotzdem das Doppelte ausgeben muss.
»Ach Max. Das willst du doch gar nicht. Du willst in ein fränkisches Landgasthaus gehen, Knödel und Schweinebraten essen, selbstgebrautes Bier trinken und danach einen Verdauungsspaziergang machen.«
»Wie gut du mich kennst. Aber du weißt, ich bin immer für Überraschungen gut. Wir gehen jetzt da hin. Zieh dich an, als hättest du einen Geschäftstermin und nimm das Foto mit, das Paula geschickt hat.«
Mehr ist aus ihm nicht herauszubringen. Ich mache mich startklar und Max behält seinen Anzug an. Nach wenigen Minuten parken wir vor dem einzigen Erlanger Edellokal, das wie immer recht spärlich besetzt ist. Nicht nur Max liebt Landkneipen.
Wir suchen uns den besten Platz aus. Dann warten wir. Der Gastraum ist groß, für fränkische Verhältnisse riesig. Was man schwarz oder weiß machen konnte, ist schwarz oder weiß, auch der im Schachbrettmuster gekachelte Fußboden. Nur die Gardinen sind aus dunkelrotem Samt und auf den dunklen Tischen stehen türkisfarbene Aschenbecher und messingfarbene Kerzenleuchter.
Der Kellner bringt eine Vorspeise auf Kosten des Hauses. Max vertilgt die walnussgroße Portion und den ganzen Inhalt des Brotkorbs. Dann schaut er mich an. Ich sehe den Ärger in seinen Augen, den bohrenden Hunger und die gallige Bosheit. Wie gut, dass dies nicht mir gilt, sondern dem Edellokal.
Ein langer und extrem dünner Mann betritt den Raum. Er trägt eine helle Sommerhose und die Art von weißem Unterhemd, die nur so tut als sei sie eins, aber in Wirklichkeit sündhaft teurer war. Das Hemd liegt eng an und betont seinen mageren Körper, was gar nicht so übel aussieht. Sein schütteres, blondes Haar ist kurz geschnitten, der Mund ist ein Strich, die Nase hätte für zwei Gesichter gereicht. Zehn Kilo Untergewicht, mindestens. Etwas sagt mir: Er wird nie auch nur ein Gramm zunehmen.
»Das ist Hans Dietzendorf, ein alter Freund von mir«, flüstert Max. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er ist Journalist und kann dir vielleicht weiterhelfen.«
»Wo hast du den denn so schnell aufgetrieben?«
»Ich habe ihm von dem Foto erzählt. Er war sofort bereit, herzukommen. Aus Berlin immerhin. Falls dir das was sagt.«
Max kann ganz schön bissig werden, wenn er Hunger hat. Er winkt seinem Freund zu, der schon zu unserem Tisch unterwegs ist.
»Guten Abend Max«, sagt Hans Dietzendorf knapp und wendet sich dann zu mir. »Sie müssen Marlene sein. Max hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
»Er mir von Ihnen nicht. Aber das werden Sie sicher gleich nachholen.«
»Nein«, sagt Dietzendorf. »Von mir werde ich überhaupt nichts erzählen, sondern gleich zur Sache kommen. Max hat mich heute Morgen angerufen und zu diesem Treffen gebeten. Ich wäre nicht gekommen, wenn ich mir nicht auch etwas davon versprechen würde, das sage ich gleich. Andererseits bin ich sicher, meine Informationen werden für Sie von Nutzen sein.«
Mir wird klar, was der Strichmund zum Ausdruck bringen soll: nur kein Wort zu viel, jedenfalls nicht gratis.
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