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Sintflut (German Edition)

Sintflut (German Edition)

Titel: Sintflut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Schulze
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Mir soll’s recht sein. Max hat die Arme vor der Brust verschränkt, was bedeutet: Ich soll reden und vergessen, dass er überhaupt da ist. Wir haben einige solcher Gesten vereinbart. Rechte Hand an die Wange heißt: Ich langweile mich und will sobald wie möglich gehen. Ziehen an beiden Ohrläppchen bedeutet: Der Unsinn ist nicht auszuhalten. Ich kann nicht länger höflich bleiben. Zeigefinger unter der Nase heißt: Das Essen war miserabel, hier war ich das letzte Mal.
    Wir bestellen Hühnerbrust in Morchelschaum und Lammnuss an irgendwas, dazu zwei Gläser Wein, eins weiß, eins rot. Dietzendorf ordert einen Blattsalat und ein Mineralwasser. Er wartet, bis der Kellner außer Hörweite ist, dann fragt er: »Max hat mir gesagt, Sie hätten ein Foto aus Rumänien?«
    »Ein Polaroid, ja. Bevor ich es Ihnen aber zeige«, antworte ich in geschäftsmäßigem Ton, »möchte ich wissen, was ich davon habe.«
    »Ich war einige Wochen in Rumänien und bin seit drei Tagen zurück«, sagt Dietzendorf. »Ihre Schwester ist dort einer heißen Sache auf der Spur. Kennen Sie zufällig meine Berichte aus Zypern?«
    »Nein, ich muss gestehen …«, unterbreche ich mich selber. Er sucht Paula?
    »Meine Arbeit auf Zypern hat mich auf die Spur einer sehr alten Zivilisation geführt. Niemand weiß etwas darüber, nur Dr. Petrus, einige Rumänen und ich. Glaube ich jedenfalls«, erklärt Dietzendorf und nippt an seinem Glas.
    Ich hole das Polaroid aus meiner Brieftasche, erzähle ihm, wie ich dazu gekommen bin und ich Paula treffen will. Dietzendorf schaut sich die Aufnahme eine ganze Weile sehr genau an. Dann zuckt er mit den Achseln und gibt mir die Aufnahme zurück.
    »Danke, dass Sie mir das Bild gezeigt haben. Ich habe Ihre Schwester anscheinend unterschätzt und sie an der falschen Stelle gesucht«.
    Mit solchen Andeutungen macht er sich bei mir nicht beliebt. Ich gehe nicht weiter darauf ein, denn das können Leute, die Andeutungen machen, gar nicht leiden. Ich soll nachhaken, mich um eine Erklärung bemühen, Neugier zeigen, aber den Gefallen tue ich ihm nicht. »Und was sagen Sie zu der Figur?«, frage ich deshalb nur.
    »Sieht aus wie Hamangia«, antwortet er. »Figuren, wie die auf dem Foto, sind typisch für diese Periode. Aber auch Tiere, Häuser, Möbel und Hausrat – alles im Puppenstubenformat. Die Objekte sehen sich oft sehr ähnlich, auch wenn sie von verschiedenen Künstlern stammen.«
    Mir fällt ein Satz ein, der in Goppels Vortrag immer wieder zu hören war. »Die Figuren werden auch als Idole bezeichnet. Warum?«
    Der Kellner öffnet eins der Fenster. Von draußen dringt Verkehrslärm und das Lachen einer Gruppe Stadtbummler herein. Max hat seine Schuhe ausgezogen und streicht unter dem Tisch mit den Zehen an meinen Waden entlang. Vielleicht wirkt er deshalb so angespannt.
    »Die meisten Wissenschaftler«, erklärt Dietzendorf nach einer Weile, »sehen es so: Diese Figuren stellen keine konkreten Menschen dar, sondern Götter oder gottähnliche Wesen. Aber man kann sie auch anders auslegen. Viele der Figuren verkörpern typisch menschliche Fähigkeiten. Nehmen Sie die Figur des Denkers als Beispiel. Wir denken, deshalb sind wir, was wir sind. Ob Gott denkt, wissen wir nicht. Aber wir denken, das steht fest. Und der Denker soll das zum Ausdruck bringen.«
    »Also doch eine Selbstdarstellung?«, frage ich verwundert.
    »Nein, eben nicht. Es gibt eine andere Figur. Sie heißt: Der Wasserträger von San Lorenzo Vecchio . Sie gilt als das erste Individuum, das jemals dargestellt wurde. Nicht das Wassertragen, sondern dieser eine Wasserträger ist das Thema. Alle vorher entstandenen Figuren gelten als Idole. Oder Götzenbilder, was Ihnen lieber ist.«
    »Und was verkörpert Ihrer Meinung nach die Figur auf Paulas Foto?«
    Dietzendorf nimmt das Foto und trommelt mit einem seiner Spinnenfinger auf die Tischplatte. Wenn es um uns herum ruhiger wäre, könnte man das Klopfgeräusch hören. Aber es ist nicht ruhig. Das Fenster ist immer noch auf und der Kellner hat eine sogenannte Hintergrundmusik aufgelegt, die sich ungebeten ins Bewusstsein dudelt. Bis in die letzten Ritzen der Öffentlichkeit ist sie mittlerweile vorgedrungen. Selbst das stille Örtchen ist nicht mehr still. Musik beim Essen, beim Scheißen, beim Einkaufen. Sogar in den besseren Restaurants. Es hilft auch nichts, wenn man sagt, die sollen die Musik ausmachen. Ich habe das schon alles versucht. Anderen gefällt es, heißt es dann, und man könne es

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