Sintflut (German Edition)
Laub und Äste liegen an den Böschungen. Anwohner mit Handäxten sammeln Brennholz für den nächsten Winter. Kein Schatten weit und breit, und im Auto ist es so heiß, dass ich beschließe, die Autobahn zu verlassen. Vielleicht ist es ohnehin besser, wenn ich mich Tirgu Neamt auf Umwegen nähere.
So komme ich zuerst nach Piatra Neamt, wo ich eine Pause mache. Mir ist zwar nicht danach zumute, aber ich brauche Bewegung. Also schaue ich mir an, was von der Altstadt übrig geblieben ist: ein Kirchturm aus dem 15. Jahrhundert und eine Hand voll Villen mit Fachwerk und hübschen Schnitzereien. Der Rest ist Plattenbau. Rechnet man den entgangenen Gewinn ein, dann wird die Moderne zum teuersten Projekt der rumänischen Geschichte. Touristen fahren nach Kronstadt, Neumarkt und Schässburg, weil es dort Altes zu besichtigen gibt. Nach Piatra Neamt werden sie sich nur selten verirren. Man könnte die Plattenbauten abreißen und den historischen Stadtkern wieder aufbauen. So wie in Frankfurt. Kaum einer erinnert sich noch daran, dass die Häuser um den Römerberg eine Kopie sind.
Besser eine schöne Kopie als ein hässliches Original. Und wer entscheidet, was schön und was hässlich ist? Leute wie du und ich. Hässlich sind die Plattenbauten. Schön sind die Dörfer und Städte, die Ceaucescu nicht dem Boden gleich gemacht hat. Sie sind geblieben, wie sie immer waren und zeigen die rumänische Eigenart. Meiner Meinung nach gibt es eine Art kollektiven Schönheitssinn. Was man oft verächtlich als Folklore bezeichnet, ist nichts anderes als die demokratische Gestaltung des öffentlichen Raumes nach dem Geschmack seiner Bewohner.
Ich fahre weiter durch ein einsames Vorgebirge. Kilometerweit kommt mir kein Auto hingegen, sehe ich weder Mensch noch Tier noch Siedlung. Nebel liegt über den Bergen, ab und zu regnet es. Am Nachmittag geht es nach einer Passhöhe endlich hinab nach Tirgu Neamt. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich mich dem Hotel Doina nähern soll, ohne jemanden über den Weg zu laufen. Das Beste scheint mir, die Dämmerung abzuwarten, um ungesehen zum Treffpunkt zu kommen, also halte ich vor der Stadt am Rand eines Eichenwaldes. Ich nutze die Zeit und gehe online. Max hat mir bestimmt auf meine Nachricht von gestern Nacht geantwortet. Die Verbindung kommt zustande, und ich habe auch eine Nachricht. Aber sie ist von Birgul, nicht von Max.
Max allein auf Bergtour. Ich denke mir nichts dabei, weil zwischen mir und ihm alles in Ordnung ist. Jeder von uns kann sich völlig frei bewegen. Wenn er nachts spät nach Hause kommt oder ganz weg bleibt, frage ich ihm keine Löcher in den Bauch. Wenn er mit einer gut aussehenden Assistentin zu irgendeinem Meeting nach New York fliegt, ist das das Normalste der Welt. Wir haben keine Affären. Der Verzicht darauf ist der Preis für die Freiheit, die wir uns geben und für die Ruhe, die wir uns lassen.
Eine seiner Assistentinnen ist eine hübsche Türkin, die jede freie Minute an einer Kletterwand verbringt und als erste Frau und Ausländerin einen der beiden Glastürme der Deutschen Bank in Frankfurt bestiegen hat. Seit gestern denke ich hin und wieder an sie. Die junge Frau versucht seit Langem, Max zu einer Bergtour zu überreden. Es stört sie nicht, dass er verheiratet ist.
»Den schnapp’ ich mir«, sagte sie zu ihrer Kollegin, die ich zufällig auch kenne und alle paar Monate zum Essen einlade, weil ich sie gut leiden kann. Dann erzählt sie mir immer allen möglichen Firmenklatsch und das mit der Türkin musste sie mir natürlich auch stecken.
Gültschen heißt das Luder. Das klingt exotischer als es ist, ich habe mich erkundigt. Gültschen ist ein eher altmodischer Name. So wie wenn bei uns jemand Edeltraut heißt. Edeltraut Müller-Puckenschmidt. Vielleicht wirkt der Name Gültschen Kemal-Zürgüli in der Türkei genauso. Für mich war er bis jetzt nur ein Zungenbrecher. Für Max auch. Ihre Ermunterungen zur Klettertour und anschließendem Outdoor-Abend wiegelte er stets ab, wie er mir mal erzählte. »Zu gefährlich«, hatte er augenzwinkernd gesagt, und damit war das Thema für ihn erledigt.
Die Nachricht von Birgul lautet:
Sie Untreue. Lassen einen Mann einsam in seinem Hotelzimmer zurück und hinterlassen nichts als einen dürftigen Zettel. Immerhin habe ich jetzt ihre Mailadresse. Aber wieso Marlene Adler? Ist das Ihr Pseudonym? Wie dem auch sei, im Netz kann sich ja ein jeder nennen, wie er will.
Sie wollten mich nicht dabei haben und
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