Sintflut (German Edition)
Frühstück mit Landkarte. Ich lehne sie an eine Blumenvase und habe den Verlauf der Fahrtroute vor Augen, während ich esse. Die Bleistiftlinie führt nach Norden, bis in die Provinz Neamt, wo Hans Dietzendorf gestorben ist. Paula ist da irgendwo, und es kann kein Zufall sein, dass die Linie da endet, wo Dietzendorf gestorben ist: in der Nähe der Stadt Tirgu Neamt.
Falls er ermordet wurde und ich Paula und Akan als Täter ausklammere, wer war es dann? Ich schiebe den Frühstücksteller weg und lege die Karte vor mich hin. Starre auf die Straßen, Täler und Flüsse, als ob die Antwort da zu finden wäre. Als ich ein Stück von meinem Brötchen abbeiße, fallen Krümel auf die Karte. Ich schiebe sie weg. Unter dem größten Krümel kommt plötzlich ein Wort zum Vorschein, das mir sofort den Schweiß auf die Stirn treibt. Das Wort heißt Slobozia Bradului .
Das Slobozia, wo ich jetzt bin, heißt einfach nur Slobozia. Es fällt sofort ins Auge, weil es eine größere Stadt ist und entsprechend fett gedruckt. Das andere Slobozia ist nur ein Dorf, viele Kilometer weiter nördlich. Man sieht es kaum, aber es ist da. Ich zerre Akans Fax aus meiner Jackentasche. Der schwarze Balken hat von dem Wort Bradului nur das i übrig gelassen.
»Slobozia südlich von Focsani« habe ich in Akans Fax gelesen, ohne mich auch nur im Mindesten zu wundern, denn dieser Satz ist so präzise wie ›Kairo südlich von Hamburg‹, wenn man das große Slobozia meint. Nur wenn man das winzigkleine Slobozia Bradului meint, ergibt der Satz einen Sinn. Das habe ich alles übersehen. Weil ich wieder mal nur meine eigenen Wege gehen wollte und jetzt ganz gewaltig den Anschluss verpasse.
Ob Akan noch in Slobozia Bradului auf mich wartet? Ich stehe sofort auf, gehe zur Rezeption und bitte die Angestellte, die Telefonnummer des Motels Paradis herauszufinden, für mich dort anzurufen und nach Akan zu fragen. Nach einigen Minuten hat sie eine Verbindung hergestellt, aber es hebt niemand ab. Ich schreibe mir die Nummer auf, um später von unterwegs aus noch mal anzurufen.
Ich hole die restlichen Sachen aus meinem Zimmer. Als ich an Birguls Tür vorbeikomme, höre ich ihn schnarchen. Eigentlich könnte ich ihn ganz gut brauchen, aber da ich nicht noch mehr Fehler machen will, beschließe ich, ihn schlafen zu lassen. Er wird auch ohne mich weiterkommen. Ich schreibe einen Gruß und meine E-Mail-Adresse auf einen Zettel und schiebe diesen unter seiner Tür durch.
Meine Straße bleibt bis Buzau eine sorgfältig geflickte, schöne Allee. Als ich dann zur Europastraße 85 abbiege, wird alles anders. Ein schwarzes Straßenband durchschneidet vierspurig die Ebene. Es ist eine Autobahn, die erste, die ich in Rumänien sehe. An ihren Rändern liegen die entwurzelten Stümpfe der Bäume, die noch bis vor Kurzem hier gestanden haben. Was haben Straßenplaner im Hirn? Warum konnten sie nicht einfach eine Parallelstraße bauen und die Bäume stehen lassen? Es wäre so viel einfacher gewesen, aber ich Strohkopf muss mich gerade beschweren.
Ich fahre bis zum Mittag auf der Autobahn. Kein Baum, kein Schatten. Im Auto ist es unangenehm heiß, das Fahren wird zur Qual. Bald muss ich tanken. Als ich bezahlt habe, rufe ich nochmals im Motel Paradis an, aber der Mann, der sich am anderen Ende meldet, spricht nur Rumänisch und legt nach einer Weile einfach den Hörer auf.
Am Nachmittag erreiche ich das Motel. Es gibt ein Restaurant, einen Parkplatz, eine Tankstelle, ein paar Zimmer im ersten Stock. An der Rezeption sitzt eine verhärmte Frau zwischen 40 und 50. Sie hat kaum noch Zähne im Mund und spricht kein Wort Deutsch oder Englisch. Nur ›Akan‹ versteht sie. Sie sagt: »Passaporte«, lässt sich meinen Pass zeigen, prüft das Bild und lässt einen Finger über die Stelle gleiten, wo mein Name eingetragen ist. Schließlich kramt sie etwas aus einer Schublade. Es ist ein Zettel, den sie mir mit finsterem Blick in die Hand drückt. Darauf steht:
»Marlene, wo bist du? Ich muss dringend weiter. Hoffentlich geht es dir gut und du kommst bald hier an. Dietzendorf ist tot, es wird brenzlig. Unser nächster Treffpunkt: Hotel Doina, Tirgu Neamt. Ich warte dort auf dich. Und zu niemand ein Wort. Gruß, Akan«
Die Frau beobachtet mich und sagt etwas auf Rumänisch zu mir. Ich zucke mit den Schultern und lege ein Trinkgeld auf den Tresen. Nichts wie weg hier. Die eingetretenen Kaugummireste auf dem Teppichboden sagen mir: Dies ist kein guter Ort zum
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