Sinuhe der Ägypter
ihnen die Kopfhaut auf und zogen sie ihnen über die Augen herab, damit sie nicht sehen sollten, wie die Marksteine weggerückt wurden. Die Bewohner Mitanis behaupteten auch, daß die Hetiter die ägyptischen Götter schmähten, was für ganz Ägypten eine große Beleidigung und für den Pharao Grund genug war, Gold und Speere und Söldnertruppen nach Mitani zu entsenden, damit dieses Land gegen die Hetiter Krieg führen könne. Zwar liebten die Mitani den Krieg nicht, sondern hofften auf die Nachgiebigkeit der Hetiter, sobald diese merken würden, daß die Macht des Pharao Mitani unterstützte. Ich kann hier nicht all das Böse aufzählen und wiederholen, was die Hetiter ihnen angetan, noch die Grausamkeiten und schändlichen Bräuche, die sie angeblich trieben. Es hieß, die Hetiter seien schlimmer als Heuschrecken; denn hinter den Heuschreckenschwärmen grünte der Boden von neuem, während da, wo die Streitwagen der Hetiter vorübergezogen waren, kein Gras mehr wuchs.
Ich wollte mich eigentlich nicht länger im Lande Mitani aufhalten, weil ich der Meinung war, bereits alles, was ich wissen wollte, erfahren zu haben. Aber ich fühlte mich in meiner Ehre als Arzt verletzt, weil die Ärzte der Mitani meinen Schilderungen des Schädelbohrens Zweifel entgegenbrachten. Da kam ein vornehmer Mann zu mir in die Herberge und klagte, er leide an einem steten Ohrensausen, das so stark sei wie Meeresrauschen. Oft falle er bewußtlos um und habe so fürchterliche Kopfschmerzen, daß er, wenn ihm niemand helfen könne, lieber sterben wolle. Die Ärzte Mitanis konnten ihn nicht heilen. Deshalb wolle er sterben, denn das Leben sei für ihn nichts als ein einziges Leiden. Ich erklärte ihm: »Es ist möglich, daß ich dich heilen kann, falls du mir gestattest, dir den Schädel zu öffnen; aber noch wahrscheinlicher ist es, daß du dabei stirbst, denn nur einer unter hundert überlebt eine Schädelbohrung.« Er antwortete: »Ich wäre verrückt, nicht auf diesen Vorschlag einzugehen. So habe ich doch eine Möglichkeit auf hundert, leben zu dürfen; wenn ich mir aber selbst den Kopf von diesen Qualen befreie, werde ich daliegen, um mich nie mehr zu erheben. Allerdings glaube ich nicht, daß du mich heilen kannst; wenn du mir aber den Schädel öffnest, verstoße ich nicht gegen das Gesetz der Götter, wie wenn ich meinen Tagen selbst ein Ende setze. Solltest du mich jedoch wider Erwarten heilen, so gebe ich dir mit Freuden die Hälfte von meinem Hab und Gut, was nicht wenig ist. Doch auch wenn ich sterbe, wirst du es nicht zu bereuen haben; denn du sollst auf jeden Fall große Geschenke bekommen.«
Ich untersuchte ihn gründlich und befühlte mit der Hand jede Stelle seines Kopfes. Doch bereitete ihm meine Berührung keinen Schmerz, und kein einziger Punkt an seinem Kopf unterschied sich von den übrigen. Da meinte Kaptah: »Schlag ihn mit dem Hammer auf den Kopf, du verlierst ja nichts dabei!« Ich klopfte ihm mit dem Hammer den ganzen Kopf ab, ohne daß er klagte, bis er plötzlich laut aufstöhnte und bewußtlos zu Boden sank. Daraus schloß ich, daß ich die Stelle gefunden hatte, an der ich den Schädel zu öffnen hatte. Ich berief die Ärzte Mitanis, die mir keinen Glauben schenkten, zu mir und sagte zu ihnen: »Ihr mögt mir glauben oder nicht, aber ich werde diesem Mann den Schädel öffnen, um ihn zu heilen, wenn auch anzunehmen ist, daß er dabei stirbt.« Die Ärzte lachten höhnisch und sagten: »Das wollen wir wahrhaftig gerne sehen.«
Ich lieh mir Feuer vom Ammontempel aus und läuterte mich und den vornehmen Patienten und reinigte überhaupt alles im Gemach. Zur Mittagszeit, als das Tageslicht am hellsten war, begann ich mit meiner Arbeit. Ich schlitzte ihm die Kopfhaut auf und stillte die starke Blutung durch glühendes Eisen, obgleich es mir leid tat, dem Patienten solche Qualen verursachen zu müssen. Er aber erklärte mir, das sei nichts gegen die Schmerzen, die ihm sein Kopf täglich verursache. Ich hatte ihm reichlich Wein, in den ich Betäubungsmittel gemischt hatte, verabreicht, so daß ihm wie einem toten Fisch die Augen aus dem Kopf standen, und er war sehr heiter. Alsdann öffnete ich mit den mir zur Verfügung stehenden Werkzeugen so vorsichtig wie möglich die Schädeldecke. Der Patient fiel dabei nicht in Ohnmacht, atmete im Gegenteil tief auf und behauptete sofort nach der Entfernung des gelösten Knochenstücks Erleichterung zu spüren. Mein Herz jubelte; denn gerade an der Stelle, wo ich den
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