Sinuhe der Ägypter
ihm noch einige Friedensjahre vergönnt sein, wenn er uns nur reichlich Gold schickt, damit wir noch mehr Kupfer und Eisen und Getreide lagern, neue Werkstätten bauen und noch schwerere Streitwagen als bisher anfertigen können. All das verschlingt viel Gold, und unser König hat die geschicktesten Waffenschmiede aller Länder nach Chattuschasch berufen und entlohnt sie reichlich. Doch warum er dies tut, ist eine Frage, die zu beantworten die Weisheit eines Arztes kaum ausreichen dürfte.«
»Eine Zukunft, wie du sie prophezeist«, sagte ich, »könnte wohl Raben und Schakale erfreuen, nicht aber mich. Auch finde ich keinen Grund zum Lachen. Denn ich habe gesehen, daß die Steine in euren Getreidemühlen von Gefangenen mit ausgestochenen Augen gedreht werden, und über eure in den Grenzländern verübten Missetaten erzählt man sich in Mitani Dinge, die ich lieber nicht wiederhole, um deine Ohren nicht zu beleidigen; denn solches steht keinem Kulturvolk an.«
»Was ist Kultur?« fragte er, indem er sich wieder Wein einschenkte. »Auch wir können lesen und schreiben und verwahren numerierte Lehmtafeln in unserem Archiv. Wenn wir den Gefangenen, die ihr Leben lang Mühlsteine drehen müssen, die Augen ausstechen, geschieht es aus lauter Menschenfreundlichkeit. Sie würden diese an und für sich schon mühsame Arbeit noch schwerer empfinden, wenn sie dabei den Himmel, die Erde und die Vögel in der Luft sehen könnten. Dies würde bloß eitle Gedanken in ihnen erwecken, und bei ihren Fluchtversuchen würden sie getötet werden. Wenn unsere Soldaten in den Grenzgebieten einigen Gegnern die Hände abhacken und anderen die Kopfhaut über die Augen herabziehen, so geschieht auch dies nicht aus Grausamkeit. Wie du selbst gesehen, sind wir in unseren Heimen gastfrei und freundlich; wir lieben Kinder und kleine Tiere und schlagen auch unsere Frauen nicht. Aber unsere Absicht ist es, unter den feindlichen Völkern Angst und Grauen zu erregen, damit sie sich uns zur gegebenen Zeit kampflos unterwerfen und sich selbst dadurch unnütze Schädigung und Verderbnis ersparen. Wir lieben Schaden und Verheerung an und für sich durchaus nicht, sondern möchten uns die Länder so unversehrt und die Städte so unbeschädigt wie möglich unterwerfen. Ein Feind, der die Furcht kennt, ist schon halbwegs besiegt.«
»Sind denn alle Völker eure Feinde?« fragte ich höhnisch. »Habt ihr gar keine Freunde?«
»Alle Völker, die sich unserer Macht unterwerfen und uns Steuern zahlen, sind unsere Freunde«, belehrte er mich. »Wir lassen ihnen ihr Eigenleben und vermeiden es nach Möglichkeit, ihre Sitten und Götter zu verletzen, wenn wir sie nur beherrschen dürfen. Im allgemeinen sind auch alle uns nicht benachbarten Völker unsere Freunde bis zu dem Tag, da sie unsere Nachbarn sein werden. Dann entdecken wir bei ihnen oft abstoßende Züge, die der nachbarlichen Eintracht schaden und uns zwingen, Krieg gegen sie zu führen. So ist es bis jetzt gegangen und wird es, fürchte ich, auch weiterhin gehen, wenn ich unseren großen König recht kenne.«
»Haben eure Götter in dieser Hinsicht nichts zu sagen?« fragte ich. »In anderen Ländern entscheiden oft die Götter über Recht und Unrecht.«
»Was ist Recht und was Unrecht?« fragte er seinerseits. »Für uns ist Recht, was wir wünschen, und Unrecht, was die Nachbarvölker wünschen. Das ist eine einfache Lehre, die das Leben und die Staatskunst erleichtert und sich meines Erachtens nicht merklich von der Religion der Flachländer unterscheidet; denn wenn ich richtig verstanden habe, halten die Götter der Ebene das, was die Reichen wünschen, für Recht, und das, was die Armen wünschen, für Unrecht. Wenn du aber wirklich etwas über unsere Götter zu wissen wünschest, kann ich dir sagen, daß unsere einzigen Götter die Erdmutter und der Himmel sind und daß wir diese jeden Frühling feiern, wenn der erste Regen des Himmels die Erde befruchtet. Bei diesen Feiern lockern wir ein wenig die Strenge unserer Sitten; denn auch das Volk muß sich einmal im Jahr austoben können. Deshalb werden zur Zeit dieser Feste viele Kinder gezeugt. Das ist gut; denn Kinder und frühe Ehen bedeuten einen Kraftzuschuß für das Land. Natürlich verehrt unser Volk, wie jedes andere, außerdem eine Reihe kleiner Götter. Aber diese brauchst du nicht in Betracht zu ziehen; denn sie haben keine Bedeutung für den Staat. Du kannst also nicht leugnen, daß unserer Religion eine gewisse Großzügigkeit
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