Sinuhe der Ägypter
monatlichen Beschwerden hörten auf, und sie erschrak und machte sich Kummer und kam ins Haus des Lebens, weil sie befürchtete, ein böser Geist sei in sie gefahren und vergifte ihren Leib. Wie vorgeschrieben, nahm ich Getreidekörner und legte sie in Erde. Einige davon befeuchtete ich mit dem Wasser des Nils, die übrigen aber mit dem Wasser der Frau. Die Erde stellte ich an die Sonne und bat die Frau, in einigen Tagen zurückzukommen. Als sie wiederkehrte, sah ich, daß die Keime aufgegangen waren und daß die mit Wasser befeuchteten klein, die übrigen aber grün und saftig waren. Also war es wahr, was geschrieben stand, und ich sprach zu der erstaunten Frau: »Freue dich, Weib, der heilige Ammon hat in seiner Gnade deinen Schoß gesegnet, und wie andere gesegnete Frauen wirst du ein Kind gebären.«
Die arme Frau weinte vor Freude und reichte mir einen Silberreifen von zwei Deben Gewicht von ihrem Armgelenk, denn sie hatte schon längst die Hoffnung aufgegeben. Und kaum schenkte sie mir Glauben, fragte sie schon: »Wird es ein Sohn?« Sie glaubte nämlich, daß ich allwissend sei. Ich faßte Mut, sah ihr in die Augen und sagte: »Es wird ein Sohn.« Denn die Möglichkeiten standen eins zu eins, und zu jener Zeit hatte ich Glück im Spiel. Die Frau freute sich noch mehr und gab mir von ihrem andern Handgelenk noch einen zweiten Silberreifen von zwei Deben Gewicht.
Doch nachdem sie gegangen war, stellte ich mir selbst die Frage: Wie ist es möglich, daß ein Getreidekorn weiß, was kein Arzt erforschen, wissen oder sehen kann, bevor die Anzeichen der Schwangerschaft dem Auge sichtbar werden? Ich faßte mir ein Herz und ging meinen Lehrer fragen, warum es so sei. Er aber betrachtete mich, wie man einen Toren betrachtet, und sagte nur: »So steht es geschrieben.« Doch das war keine Antwort auf meine Frage: »Warum?« Nochmals schöpfte ich Mut und fragte den königlichen Geburtsarzt im Haus der Wöchnerinnen, warum es so sei. Er antwortete: »Ammon ist der König aller Götter. Sein Auge sieht den Schoß des Weibes, in den sich die Samen ergossen. Wenn er die Befruchtung gestattet, warum sollte er dann nicht auch dem Gerstenkorn, das mit dem Wasser eines befruchteten Weibes befeuchtet wurde, gestatten, in der Erde zu keimen?« Er sah mich an wie einen Toren, doch für mich waren seine Worte keine Antwort auf mein »Warum?«.
Da gingen mir die Augen auf, und ich sah, daß die Ärzte im Haus des Lebens nur die Schriften und Gebräuche kannten, aber nichts darüber hinaus. Denn wenn ich fragte, weshalb eine ätzende Wunde gebrannt, eine gewöhnliche Wunde aber gesalbt und verbunden werden sollte, und warum Schimmel und Spinngewebe Geschwüre heilten, gab man mir zur Antwort: »Es ist stets so geschehen.« So hat auch der im Gebrauch des heiligen Messers Erfahrene das Recht, die hundertzweiundzwanzig Operationen und Schnitte, die aufgezeichnet worden sind, vorzunehmen, und er führt sie aus, je nach seiner Erfahrung und Geschicklichkeit, besser oder schlechter, rascher oder langsamer, schmerzloser oder unter Verursachung unnützer Qualen. Darüber hinaus aber kann er nichts tun, weil nur diese in den Büchern aufgezeichnet und abgebildet sind und weil nichts anderes in früheren Zeiten unternommen wurde.
Es gab Menschen, die abmagerten und ihre Gesichtsfarbe verloren, ohne daß der Arzt eine Krankheit oder ein Übel bei ihnen zu entdecken vermochte. Trotzdem konnten sie sich erholen und gesund werden, wenn sie rohe, zu hohem Preis gekaufte Leber von den Opfertieren aßen. Doch man durfte nicht fragen, warum es so geschah. Es gab Menschen, die Leibschmerzen bekamen und deren Gesicht und Hände brannten. Sie erhielten Abführmittel und schmerzstillende Arzneien, und einige genasen, und andere starben, ohne daß der Arzt im voraus hätte sagen können, wer Heilung finden und wessen Magen aufschwellen werde, bis der Tod ihn erlöste. Doch, weshalb der eine gesund wurde und der andere starb, wußte niemand, noch durfte man danach fragen.
Ich merkte nämlich bald, daß ich zuviel Fragen stellte, denn man begann mir abgeneigt zu werden, und die, die nach mir kamen, wurden bevorzugt und über mich gesetzt. Da zog ich mein weißes Gewand aus, reinigte mich und verließ das Haus des Lebens und nahm die zwei Silberreifen mit, die zusammen vier Deben wogen.
5
Doch als ich mitten am Tag aus dem Tempel trat, was seit Jahren nicht geschehen war, gingen mir die Augen nochmals auf, und ich sah, daß während der Zeit meiner
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