Sinuhe der Ägypter
großen, stattlichen Sohn und meinen kleinen, zarten Jungen weine, die alle morgen mit mir sterben müssen.«
Ich sagte zu ihm: »Aziru, König der Amoriter, bedenke, daß ganz Syrien deiner Machtgier wegen eine stinkende Leichengrube ist! Unzählige Menschen haben deinetwegen sterben müssen, Aziru. Deshalb ist es durchaus recht und billig, daß du, da du besiegt bist, morgen sterben mußt; und vielleicht ist es sogar gerecht, daß deine Familie dir in den Tod folgen muß. Wisse jedoch, daß ich Haremhab um das Leben deiner Gemahlin und deiner Söhne gebeten und ihm für diese Gunst große Geschenke angeboten habe; aber er hat meinen Vorschlag abgewiesen. Er ist nicht darauf eingegangen, weil er deine Brut und deinen Namen und sogar dein Andenken in Syrien tilgen will. Deshalb, Aziru, gönnt er dir nicht einmal eine letzte Ruhestätte, und es sollen die Raubtiere deinen Leib zerreißen. Denn er will verhindern, daß sich die Männer Syriens in Zukunft um dein Grab scharen, um in deinem Namen böse Eide abzulegen.«
Als Aziru dies vernahm, erschrak er sehr und sagte: »Sinuhe, ich beschwöre dich, nach meinem Tod für mich ein Trankopfer und ein Fleischopfer vor meinem Gott Baal darzubringen, weil ich sonst ewig hungernd und dürstend in der Finsternis des Totenreiches umherirren müßte! Denselben Dienst bitte ich dich auch Keftiu, die du einst geliebt, wenn auch aus Freundschaft mir überlassen hast, und ebenso meinen Söhnen zu erweisen, damit ich mich ihretwegen nicht sorgen muß, sondern ruhig sterben kann. Auch will ich Haremhab wegen seines Entschlusses nicht tadeln; denn wahrscheinlich würde ich mit ihm und seinem Geschlecht ebenso verfahren sein, wenn er mir in die Hände gefallen wäre. Obgleich ich weine, freue ich mich, offen gestanden, doch, daß meine Familie mit mir sterben und unser Blut zusammen fließen darf; denn im Totenreich würde mich unaufhörlich der Gedanke quälen, es könnte auf Erden ein anderer Mann Keftiu umarmen und ihren stattlichen Leib berühren. Sie hat viele Bewunderer, und die Dichter haben ihre üppige Schönheit besungen! Auch für meine Söhne ist es besser, zu sterben; denn sie wurden zu Königen geboren und trugen bereits in der Wiege Kronen. Deshalb möchte ich sie nicht als Sklaven in ägyptischer Knechtschaft leidend wissen.«
Er begann wieder Bier zu saugen, bis er in seinem Elend nicht mehr ganz nüchtern war, worauf er sich mit den wunden Fingern den Schmutz und Dreck, mit dem ihn die Soldaten beworfen hatten, vom Leib zu kratzen begann und sprach: »Sinuhe, mein Freund! Du beschuldigst mich fälschlich, wenn du behauptest, Syrien sei meinetwegen eine stinkende Leichengrube. Meine Schuld liegt einzig darin, daß ich den Krieg verlor und mich von den Hetitern betrügen ließ. Wahrlich, wenn ich gesiegt hätte, würde man alles Böse, was geschehen ist, Ägypten zur Last legen und meinen Namen preisen. Aber weil ich verloren habe, werden mir alle Übel zur Last gelegt, und ganz Syrien verflucht meinen Namen.«
Das starke Bier berauschte ihn, er raufte sich mit den gefesselten Händen das graue Haar und rief mit lauter Stimme: »O Syrien, Syrien, mein Schmerz, meine Hoffnung, meine Liebe! Um deiner Größe willen vollbrachte ich alle meine Taten, für deine Freiheit erhob ich mich. Aber an meinem Todestag verwirfst du mich und verfluchst meinen Namen! O herrliches Byblos, o blühendes Simyra, o schlaues Sidon, o starkes Joppe, o ihr Städte alle, die ihr wie Perlen in meiner Krone funkeltet, warum habt ihr mich im Stich gelassen? Doch liebe ich euch zu innig, als daß ich euch eurer Abtrünnigkeit wegen hassen könnte; denn ich liebe Syrien so, wie es ist: heimtückisch, grausam, unbeständig und verräterisch. Geschlechter gehen unter, Völker stehen auf und verschwinden wieder, Reiche wechseln, Ruhm und Ehre vergehen schattenhaft – ihr stolzen Städte aber sollt bestehen bleiben! Funkelt am Meeresstrand mit weißen Mauern am Fuß der roten Berge, leuchtet von Zeitalter zu Zeitalter, und mein Staub, vom Wüstensand getragen, wird euch umfangen!«
Während er so sprach, ward mein Sinn von Wehmut ergriffen; denn ich merkte, daß er immer noch in Träume verstrickt war, die ich nicht zerstören mochte, weil sie ihm in der letzten Nacht seines Lebens Trost spendeten. Deshalb hielt ich seine verstümmelten Hände in den meinigen, die er leise stöhnend drückte, indem er sprach: »Sinuhe, ich bereue weder meine Niederlage noch meinen Tod! Nur wer vieles wagt, kann
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