Sinuhe, Sohn der Sykomore 1
Haus des Lebens zu erwärmen. Sein Verstand war bald völlig von der Magie und Komplexität der heiligen Zeichen gefangen. Meist schrieben die Schüler ihre Übungen auf Scherben aus weißem Kalkstein, denn Papyrus war kostbar und seine Herstellung mühsam.
Mit seinen Mitschülern verband ihn die gemeinsame Freude an den Schriften der Alten. Im Kreis sitzend diskutierten sie angeregt über Nuancen und Bedeutungen einzelner Silben und Zeichen.
Manchmal aber reichte ein Wort, um die Erinnerungen an die unbeschwerte Kindheit wachzurufen. Sinuhe verlor sich dann in ihnen; die Geräusche im Raum nahm er nur noch wie aus weiter Ferne wahr, bis ein Schlag auf den Kopf durch den Lehrer ihn wieder in die Gegenwart brachte. An solchen Tagen fühlte er sich leer, und die Farben seiner Welt schienen ihm blass und verbraucht.
Im Laufe der Zeit drang der junge Schreiber immer tiefer in die Mysterien der Schriftbilder ein. Das Geschriebene sagte nicht einfach nur etwas aus, sondern konnte es sogar magisch zum Leben erwecken. So würde der Ba, der Seelenvogel eines Verstorbenen, nie Hunger leiden, solange die Opfergaben als Inschriften auf den Reliefs seines Grabes niedergeschrieben waren – sogar wenn die Opfer selbst längst zu Staub zerfallen waren.
Seine Tinte konnte Sinuhe nun selbst anmischen und mit sicherem Auge die geeigneten Binsen als Schreibmaterial heraussuchen. Im Diktat machte er immer weniger Fehler, und für sein sauberes Schriftbild und die Eleganz seiner Zeichen wurde er von seinen Lehrern gelobt. Er nahm die typische Körperhaltung des Schreibers an, sein Rücken wurde rund, während seine Finger stets tintenfleckig waren.
Jeden Abend kehrte er zu den Eltern heim. Cheti war stolz auf ihn und zeigte das auch deutlich. Von Meret bekam er die Wärme, die seinem Herzen ansonsten fehlte, denn einen neuen Freund wie Sesostris fand er unter den Auszubildenden im Haus des Lebens nicht.
4 ~ Unruhen im Norden
Regierungsjahr 8 von Amenemhet I
Mit einem müden Wink entließ Amenemhet den Boten und wandte sich Ipi zu: »Schon wieder ein Aufstand in Unterägypten. Wenn ich nur wüsste, wer dahintersteckt. Irgendjemand muss doch die Leute im Delta aufwiegeln, anders ist es nicht zu erklären, dass nur dort immer wieder Unruhen ausbrechen.«
»Es liegt einfach daran, dass wir von Waset aus die oberägyptischen Gaue gut kontrollieren können. Die unterägyptischen sind dagegen zu weit entfernt. Wo die starke Hand des Herrschers fehlt, finden sich schnell Menschen, die meinen, sie könnten nach eigenem Gutdünken schalten«, gab der Wesir zu bedenken.
»Das Problem haben wir schon zur Genüge durchgekaut«, murrte der Pharao. »Mir steht es bis hierhin.«
Verärgert musterte er die Mitglieder seines Rates, als seien sie an der Misere schuld. Die vornehmen Beamten pressten nur die Lippen zusammen oder betrachteten angelegentlich ihre Fingernägel.
»Wenn wir die Hauptstadt einfach weiter nördlich verpflanzen könnten, wäre Vieles einfacher«, seufzte Cheti nach einer Weile bedrückenden Schweigens.
Amenemhet runzelte die Stirn. Dann klärte sich sein Blick. »Nach Norden verpflanzen … Aber ja, Cheti, weiser Freund, du hast die Lösung gefunden!« Er lachte über den verwirrten Blick seines obersten Schreibers und erhob sich aufgeregt: »Ich werde eine neue Hauptstadt gründen! Nicht Men-Nefer soll es sein, aber an der Waage der Beiden Länder soll sie liegen. Ich will eine neue Stadt errichten, denn auch meine Dynastie ist neu. Ich werde sie Itji-Taui nennen ›Die die Beiden Länder beherrscht‹. Prächtig wird sie sein, großartig!« Amenemhet schnappte nach Luft, denn vor lauter Begeisterung hatte er vergessen zu atmen.
Immer noch war es still im Rat. Als die Bedeutung von Amenemhets Worten jedoch langsam in die Gemüter der behäbigen Beamten eingesickert war, erhob sich Stimmengewirr.
Amenemhet ignorierte die Fragen und Protestrufe der Versammelten und beugte sich zu Cheti: »Auf ein Wort, mein Freund.«
Gemeinsam zogen sie sich in das Arbeitszimmer des Pharaos zurück, während im Saal noch heftig diskutiert wurde. Gedämpft drangen die Stimmen durch die dicke Tür aus Zedernholz. Amenemhet ließ sich in seinen Sessel fallen und streckte aufatmend die Beine von sich.
»Ach Cheti, mir ist, als sei ein Stein von meinem Herzen genommen. Ich bin sicher, dass Ägypten mit Itji-Taui als Residenz wieder zur Ruhe kommen wird. Ich bin so froh wie lange nicht mehr«, lächelte der Herr der Beiden
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