Siras Toten-Zauber
kannte Ihren Mann, Mrs. Munro.«
»Ach so?« Keine Reaktion ihrerseits, obwohl ich in der Vergangenheit gesprochen hatte.
»Leider sind wir nicht mehr dazu gekommen, uns zu unterhalten. Es kam etwas dazwischen…«
»Sein Tod!« Sie wußte Bescheid, und sie hatte mir die Antwort völlig emotionslos gegeben.
»Was wissen Sie?«
Ein leises Lachen drang über ihre Lippen. »Es gibt Dinge, über die ich ungern rede, Mr. Sinclair. Aber ich wußte, daß es so kommen würde. Sein Schicksalstag war der heutige. Er wäre ihm sowieso nicht entgangen, aber er hätte wesentlich ruhiger schlafen können, wäre er nicht nach Bangalore gefahren, um der Palmbibliothek einen Besuch abzustatten. Das ist sein Fehler gewesen.«
»Gratuliere, Mrs. Munro, Sie kennen sich aus.«
»Bitte sagen Sie nicht Mrs. Munro. Sagen Sie einfach Sira.«
»Wie Sie wünschen.«
»Ich wußte, daß sein Schicksal ihn ereilt hatte, aber die Männer kamen, um das Haus zu durchsuchen. Aber ich habe nicht geöffnet. Ich wollte nicht mit ihnen sprechen.«
»Sie reden aber mit mir…«
»Das ist etwas anderes«, gab sie zu. »Ich kann Sie nicht direkt als einen Polizisten ansehen.«
»Was bin ich dann für Sie?«
Sie blieb im Halbdunkel, so daß ich ihre äußere Reaktion nicht mitbekommen konnte. »Sie sind eine sehr ungewöhnliche Person, was ich genau spüre. Sie strahlen etwas aus, das ich sehr schlecht in Worte fassen kann, und dies beunruhigt mich. Ich bin es eigentlich gewohnt, die Menschen zu durchschauen. Bei Ihnen gelingt mir das nicht. Wie soll ich Sie einstufen? Wer sind Sie wirklich?«
»Auch ein Polizist.«
»Das streite ich nicht einmal ab.« Sie wechselte das Thema und ging dabei auf eine der Masken zu, über die sie mit den Fingerspitzen streichelte. »Wissen Sie eigentlich, Mr. Sinclair, daß ich eine Inderin bin?«
»Nein, nicht genau. Mir fiel nur ihr Name auf. Er klingt nicht europäisch.«
»Ja, ich stamme aus dem südlichen Indien, und mein Mann, der sich in mich verliebte, brachte mich nach Europa. Das Land faszinierte ihn. Bei seinem ersten Besuch lernte er mich kennen und wollte immer mehr erfahren.« Sie streichelte weiter über die Maske. »Zugleich richtete er mir dieses Haus hierein. Er wollte mir ein Stück Mythologie schaffen, auch ein Stück Heimat, denn ich als seine Frau sollte mich wohl fühlen. Mir sollte es an nichts fehlen. Wir sprachen oft über Bangalore und die geheimnisvolle Bibliothek dort. Und ich muß sagen, daß es fruchtbare Gespräche waren. Sehr fruchtbare sogar, die meinen Mann begeisterten und ihn noch mehr für Indien interessierten. Es war wie ein Drang, der ihn überkommen hatte. Er merkte plötzlich, daß er hin mußte, daß dort etwas war, das auf ihn wartete.«
»Die Bibliothek des Schicksals, nehme ich an.«
»Stimmt genau, Mr. Sinclair. Es ist die wohl rätselhafteste Bibliothek der Welt, denn schon vor Jahrtausenden ritzten indische Weise dort auf sechs Zentimeter breiten und achtundvierzig Zentimeter langen Palmblättern die Schicksale der Menschen ein, die heute leben. Natürlich nicht die Schicksale der Milliarden von Menschen, sondern nur die derjenigen, die diese Bibliothek irgendwann einmal besuchen würden. Das wußten die Mönche und Weisen sehr genau. So wird die Zahl eben reduziert und ist auf eine gewisse Art und Weise übersichtlich geblieben.«
»Das ist sehr interessant«, gab ich zu. »Sogar faszinierend, aber ich kann mir schlecht vorstellen, daß sich diese Palmblätter über Jahrtausende gehalten haben, oder hat man sie konserviert, was ich auch kaum glauben kann, denn wenn jemand erscheint, müssen sie ja hervorgeholt werden und sind damit den normalen Umwelteinflüssen ausgesetzt.«
Über ihre vollen Lippen legte sich ein feines Lächeln. »Ich höre schon, Mr. Sinclair, daß Sie mich sehr gut verstanden haben. Sie denken mit, das ist gut. Sehen Sie, in der Bibliothek arbeiten die Weisen, die Mönche, diejenigen, die sich auf andere Welten vorbereiten, die den Begriff Zeit nicht kennen, für die es keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft in unserem Sinne gibt. Sie beherrschen die Fähigkeiten der Astralreise ebenso wie die des Hellsehens und der Astrologie. Und sie sind nicht allein damit beschäftigt, zu beten, sondern sorgen auch dafür, daß die Botschaften auf den zu alt und brüchig gewordenen Blättern erneuert werden. Sie schreiben sie auf andere Palmblätter, und dieser Kreislauf hört eigentlich nicht auf, so daß die Mönche stets eine
Weitere Kostenlose Bücher