Sirenenfluch
Vater gefragt, als er zur Hintertür hereingepoltert kam. »Ich habe ihm doch gesagt, dass ich ihn für den Traktor brauche.«
Will stieß seinen Stuhl vom Tisch weg. »Ich kann dir doch helfen.«
»Bert, jetzt lass uns doch um Himmels willen bloß damit in Frieden!« Wills Mutter stand am Spülbecken, wo sie die Zuckerschoten putzte, und warf ihrem Mann einen knappen Seitenblick zu. »Will, du würfelst die restlichen Tomaten. Und du, Bert, geh und wasch dich – du bist über und über mit Motorenöl beschmiert. In zehn Minuten können wir essen.«
»Weib, du kommandierst mich herum, als wärst du die Königin von England«, beschwerte sich Wills Vater scherzhaft.
Sie schlug spielerisch mit einem Geschirrtuch nach ihm. »Ich bin die Königin dieses Hauses.«
»Jawohl, Hoheit.«
»Es heißt, Eure Majestät« , wies sie ihn zurecht.
»Schon kapiert.« Wills Vater zwinkerte Will zu und verschwand eilig im Flur, um sich zu waschen.
Will ging mit den Tomaten zum Herd und beförderte sie in die Pfanne, in der bereits die Zwiebeln anbräunten. Sofort begann der fleischige Tomatensaft in der heißen Butter zu blubbern und sich an den Rändern orange zu färben.
»Danke, Will. Könntest du dann bitte Tim suchen und ihm sagen, dass wir gleich essen wollen?«
»Sicher.« Will lief die Treppe hoch, stieg dann die Leiter hinauf und steckte seinen Kopf durch die Luke, die zu Tims Zimmer führte. »Tim?«
Keine Antwort.
Will stieg bis ganz nach oben. Im vergangenen Jahr hatte Tim den Dachboden zu seinem Zimmer umgebaut. Die Schrägen hingen tief und der Raum besaß lediglich zwei winzige Fenster. Wenn man dort jedoch hinaussah, bot sich einem ein wunderschöner Ausblick. Links lagen die Dünen mit dem Meer dahinter. Rechts die kleine Bucht. Tim war oft stundenlang dort oben, um zu lesen oder Gitarre zu spielen. Es war ein behagliches Plätzchen und häufig gesellte sich Will zu seinem Bruder. Dann führten sie ausgiebige Gespräche.
Will ging zum Fenster und ließ den Blick über die weiten Anbaufelder schweifen. Unzählige Irisknospen waren jüngst aufgesprungen und hatten das Blumenfeld in ein farbenfroh leuchtendes Blütenmeer verwandelt. Der Verkauf von Blumen war eine äußerst lukrative Angelegenheit und diese hier wuchsen direkt neben den dicht gepflanzten, buschigen Tomatengewächsen – die gerade in Blüte standen und noch keine Früchte trugen – sowie neben einigen kürzeren Reihen, in denen Salbei, Thymian und Dill gediehen. Links befand sich das kleine Wäldchen und hinter der Anbaufläche lagen die Dünen, dann kam das Meer. Dort sah Will zwei Gestalten. Die eine war Tim. Die andere, deren langes blondes Haar von der Abendsonne in ein warmes Licht getaucht wurde, war Zoe.
Will zögerte einen Moment und beobachtete die beiden. Offenbar waren sie ganz ins Gespräch vertieft. Er fragte sich, worüber sie wohl redeten. Will wusste um Tims Gefühle für Zoe – jeder wusste es. Und er nahm an, dass Zoe seine Gefühle erwiderte. Natürlich liebte auch sie Tim. Schon lange hegte Will die Befürchtung, als fünftes Rad am Wagen zu enden, und nicht etwa als einer der Drei Musketiere. Möglicherweise würde es in diesem Jahr so weit sein …
»Will!«, rief Mrs Archer von unten. »Sag Tim, er hat noch zwei Minuten!«
Will rannte die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Er überquerte die Felder und lief zwischen den mit kleinen weißen Blüten besetzten Bohnenreihen hindurch. Doch als er am Meer ankam, war Tim bereits allein.
Er hatte am Wasser gestanden und hinaus auf die Wellen geschaut. So wie Asia in diesem Augenblick.
Will war aufgestanden, und weil ihm nichts einfiel, das er hätte sagen können, schaute er sie einfach nur an.
»Ich weiß, dass du da bist«, flüsterte sie nach einer kurzen Weile, ohne sich nach ihm umzudrehen.
»Gut«, sagte er. Da fuhr sie herum und sah ihn an. Ihre Sandalen landeten mit einem Platsch in dem sich gerade zurückziehenden Wasser.
Will eilte hin, um sie herauszufischen. Als er Asia die Sandalen, die voller Sand waren, zurückgab, hatten sich ihre Gesichtszüge wieder etwas entspannt.
»Danke«, sagte sie mehr zu den Sandalen als zu ihm.
Er blickte ihr prüfend ins Gesicht. »Du scheinst überrascht zu sein, dass ich hier bin.«
Asia sah ihn an, jedoch ohne ein Wort zu sagen. In Will regten sich Zweifel. Er war davon ausgegangen, dass sie mit ihm gesprochen hatte, doch mittlerweile fragte er sich ernsthaft, ob ihre Worte – »Ich weiß, dass du da bist« –
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