Sirenenfluch
Trinken zurück. Tim hatte früher oft scherzhaft gemeint, an den Tagen, an denen er im Verkauf mithalf, müsste er Windeln tragen. So langsam kam Will diese Idee gar nicht mehr so dumm vor.
Am vierten Morgen kam Will sehr früh in die Küche. Sein Vater saß bereits am Esstisch. Auch Onkel Carl war dort. Neben der Kaffeekanne, die auf der Arbeitsplatte stand und zischende Geräusche von sich gab, hatte Wills Mutter einen Kaffeebecher für ihn bereitgestellt. Auf dem Tisch stand ein Porzellanteller mit Blumenmuster, auf dessen Mitte seine Mutter ein Scone platziert hatte. Außerdem hatte sie selbst gemachte Pfirsich- und Erdbeermarmelade sowie frische Butter hingestellt.
»Hey, Will!«, begrüßte Carl ihn breit grinsend. »Schön, dich zu sehen, du Schlafmütze!«
Sein Vater saß am anderen Ende des weißen Ecktischs und betrachtete ihn schweigend. Er blickte hinab auf seinen Teller, nahm noch eine Gabel voll Rührei und tunkte sie in den Ketchup. »Du siehst sehr müde aus«, sagte er.
»Hab schlecht geschlafen«, erwiderte Will und goss sich einen Becher schwarzen, aromatisch duftenden Kaffee ein.
»Du meinst wohl eher: gar nicht«, sagte sein Vater.
»Teenager bleiben doch immer bis in die Puppen wach«, grinste Carl.
»So ist es.« Will ließ sich auf den Stuhl gegenüber von seinem Vater plumpsen und brach das Scone in der Mitte auf.
»Beschäftigt dich irgendetwas?«, fragte Wills Vater und blickte seinen Sohn mit einer Mischung aus Neugier und Beunruhigung an – so als wüsste er gerne, was Will gerade durch den Kopf ging, und hätte gleichzeitig Angst davor, es zu hören.
Mit einem Mal überkam Will der Wunsch, seinem Vater alles zu erzählen. Er konnte es nicht recht erklären, doch er hatte das starke Gefühl, dass sein Vater ihm tatsächlich zuhörte. »Dad, hast du schon mal was von … Meerhexen gehört?«
»Von Hexen?«
»Oder … Seekriegern?«
»Was?« Wills Vater und Carl wechselten einen argwöhnischen Blick. Wills Onkel tat gleich darauf so, als sei er gerade furchtbar mit dem Würstchen auf seinem Teller beschäftigt.
»Ach, nicht so wichtig.« Will verstrich mit äußerster Sorgfalt die Erdbeermarmelade auf dem Scone und vermied es dabei tunlichst, seinem Vater in die Augen zu sehen. Er klang wie ein Spinner. Das war ihm selbst klar.
»Was genau möchtest du wissen?« Wills Vater hielt eine Gabel in der einen, ein Messer in der anderen Hand und blickte Will eindringlich an.
»Na ja, es ist nur – ich habe in letzter Zeit ein paar Geschichten gehört.« Er zuckte hilflos mit den Schultern und lachte halbherzig, um dem Ganzen die Ernsthaftigkeit zu nehmen. »Wahrscheinlich eh total verrückt, diese Geschichten.«
Sein Vater legte Messer und Gabel behutsam beiseite. Er nahm einen tiefen Schluck von seinem Kaffee und sagte kein Wort.
Will bohrte mit einem Finger in seinem Scone herum. Es war immer noch ofenwarm – saftig und süß und mit schwarzen Johannisbeeren darin. Seine Mutter backte sie jeden Morgen, ebenso wie die Muffins und Cookies, die dann am Stand verkauft wurden. Dafür stand sie extra um drei Uhr in der Früh auf und legte sich dann gegen acht noch einmal für ein paar Stunden ins Bett.
Für gewöhnlich genoss Will die ruhigen Morgen allein mit seinem Vater und er freute sich jedes Mal, wenn sein Onkel da war. Wills Dad glaubte nicht an den Wert von Müsli als Frühstücksmahlzeit. Er war überzeugt, dass es sich hierbei um eine Verschwörung seitens riesiger Konzerne handelte, die die Leute dazu brachten, am frühen Morgen Müll in sich hineinzuschaufeln. Und so aß er jeden Morgen seine Eier und Toast und von Zeit zu Zeit noch etwas gebratenen Schinkenspeck dazu. Er und Will saßen dann in trauter Zweisamkeit am Tisch und aßen schweigend, räumten danach ab und machten sich auf den Weg zur Arbeit.
An diesem Morgen jedoch war Will das Schweigen höchst unangenehm. Sein Blick fiel auf die Lokalzeitung, und als er gerade danach greifen wollte, sagte sein Vater: »In dieser Stadt kursieren eine Menge merkwürdiger Geschichten.«
»Was?« Will war entsetzt.
»Ich habe auch schon von den Seekriegern gehört«, sagte sein Vater mit ruhiger Stimme und blickte ihm dabei unverwandt in die Augen.
»Und?«, fragte Will und schaute seinen Onkel an. Der sah aus, als wolle er etwas sagen, doch ein Blick von Wills Vater brachte ihn zum Schweigen.
Wills Vater stellte seinen Teller ins Spülbecken. Mit dem Rücken zu Will sagte er dann: »An diesen Geschichten ist rein gar
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