Sirenenfluch
zum Wasser gehe, das ist alles. Sie hat behauptet, die Meerhexe würde mich holen kommen.«
»Was für eine Meerhexe?«
»Sie verschleppt Kinder in ihre Unterwasserhöhle. Sally hat immer gesagt, dass die Hexe Macht über Wind und Wellen besäße und dass sie im Spätsommer, wenn die Tage allmählich kürzer werden, immer zorniger und gereizter würde. Ich habe jedenfalls immer geglaubt, sie hätte mir das alles nur erzählt, um mir Angst zu machen, weil sie keine Lust hatte, mit mir an den Strand zu gehen. Sally ist nie gerne hier am Strand gewesen. Und sie war auch kein einziges Mal mit mir zum Schwimmen in der Bucht.« Zoe erinnerte sich noch allzu gut daran, wie sich Sallys von Falten überzogenes Gesicht in eine starre Maske des Widerstands verwandelt hatte, sobald die Bucht auch nur erwähnt wurde. Lieber nahm sie die zwanzigminütige Autofahrt zum öffentlichen Strand in Kauf, als dass sie mit Zoe zur Bucht lief, die nur fünf Gehminuten entfernt war. Sally hatte dunkle Haut und ein herzförmiges Gesicht mit markanten Wangenknochen. Ihre mandelförmigen Augen blickten dunkel unter dichten Augenbrauen hervor. Dennoch hatte sie blond gesträhntes, leicht ergrautes Haar, das sie zu einem langen Zopf geflochten trug. Was die von der Meerhexe ausgehende Gefahr betraf, blieb sie dabei. »Todbringende Meeresfrau«, hatte Sally sie genannt.
Will sog ihre Informationen geradezu auf. »Meinst du, ich könnte mal mit ihr reden?«
»Ich glaube, sie ist fortgezogen. Um bei ihrer Tochter zu leben, in Georgia oder so. Ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhält.«
»Kann ich mal deinen Computer benutzen?«
»Klar doch.«
Sie betraten das Wohnzimmer, in dem Johnny saß und eine Melodie auf seiner Gitarre vor sich hin zupfte. Das Instrument war beinahe so alt wie Johnny selbst – wenn er neue Stücke schrieb, dann stets auf seiner allerersten Gitarre. Auf Konzerten spielte er sie nie, doch für ihn war sie so etwas wie seine »Inspirationsmaschine«.
Will winkte ihm zu und Johnny nickte, ohne jedoch seine Gitarre aus der Hand zu legen oder irgendein weiteres Zeichen zu geben, dass er Will gesehen hatte. Stattdessen spielte er einfach weiter die Melodie aus seinem Kopf und erfüllte das ganze Haus mit gespenstischer Musik. Wills Miene nahm einen sonderbaren Ausdruck an und Zoe wünschte, sie wäre ebenso gut darin, seine Mimik zu lesen, wie er die ihre.
Sie ging vor ihm her zu ihrem Zimmer. Dort herrschte das übliche Chaos – eine zerknautschte weiße Decke war halbherzig über dem Bett ausgebreitet, Bücher und Zeitschriften waren überall verstreut, auf dem Boden lag ein Skizzenblock, dessen aufgeschlagene Seite einen riesigen Flügel mit penibel genau gezeichneten Federn und Muskeln zeigte. Und direkt daneben lag ein Gemälde. Vielleicht fällt es ihm ja gar nicht auf, hoffte Zoe.
»Woher hast du das?«, fragte Will unmittelbar.
Zoe spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. »Es war plötzlich da.«
»Es war plötzlich da?«
»Ganz ehrlich, Will, es ist gestern einfach so auf meinem Bett aufgetaucht.«
»Du musst die Polizei benachrichtigen!«
»Werden die von der Galerie dann nicht denken, dass ich es gestohlen habe?«
Will dachte kurz nach. »Ich werde Angus anrufen«, sagte er. »Sein Onkel Barry wird das schon irgendwie hinbekommen.«
Zoe nickte. »Würdest du das für mich tun?« Sie warf dem Gemälde einen argwöhnischen Blick zu. »Das Ding ist mir nicht geheuer. Wer würde denn so etwas hierlassen? Und wozu?«
»Es könnte möglicherweise eine Art Botschaft sein«, sagte Will langsam.
Zoe zog eine Grimasse. »Beim nächsten Mal sollen sie mir einfach eine SMS schicken.«
»Ich werde Angus später anrufen«, versprach Will. Zoe ließ sich auf ihr Bett fallen und sah zu, wie Will auf dem Schreibtischstuhl Platz nahm und der Computerbildschirm zum Leben erwachte.
Augenblicklich erschien darauf der Chat mit ihrer Mutter. Will, der soeben nach der Maus greifen wollte, hielt inne und sie wusste, dass er es gesehen hatte. Doch er verlor kein Wort darüber. Stattdessen gab er irgendetwas bei Google ein. Verschiedene Seiten über Meerhexen und Long Island wurden angezeigt.
»Und, hast du was gefunden?«
Will überflog eine der Seiten. »Nicht viel mehr als das, was du mir bereits erzählt hast«, gestand er. »Meeresfrau«, meinte er, mehr zu sich selbst. »Sie war eine Riesin.« Er zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Bringt mich auch nicht gerade weiter.«
Zoe setzte sich im Schneidersitz zurecht
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