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Sirenenfluch

Sirenenfluch

Titel: Sirenenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Papademetriou
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auf, dass sie beinahe die Länge seines Arms hatte. Ein Gedanke durchfuhr ihn und ließ ihn erschauern. War dies möglicherweise der Knochen eines Menschen? Der sterbliche Überrest eines zu Tode erschrockenen Matrosen, der auf den Grund des Meeres gezogen worden war?
    Das ist doch Blödsinn, sagte sich Will. Andererseits – was hatte es mit Asias Stimme auf sich, die Jason hatte aufhalten können? Oder mit dieser sonderbaren, schwermütigen Melodie, die Zoe vor sich hin gesummt hatte. Was hatte all dies nur zu bedeuten?
    Will fröstelte. Noch mehr als sonst wünschte er, er könnte mit Tim reden. Sein Bruder hatte stets gewusst, was zu tun war. Er war klug und praktisch veranlagt gewesen. Wäre er jetzt hier, um ihm einfach nur zu sagen, dass er sich wie ein Irrer aufführte, so hätte Will es ihm sicherlich geglaubt. Und hätte sein Bruder ihn nicht für irre gehalten, nun, dann wäre das ebenfalls hilfreich gewesen. Doch es gab sonst niemanden, dem er sein Wissen anvertrauen konnte. Angus konnte er nicht davon erzählen. Und Zoe wollte er nicht davon erzählen – sie hatte schließlich genügend eigene Probleme.
    Tim hatte ein tiefes Loch in der Welt hinterlassen.

Kapitel 10
    Seekrieger Shanty (Volkslied)
     
    Der Tod ist wie ein Fluss
    Und in Flüssen sind wir daheim.
    Daheim, daheim!
    Ja, der Tod ist wie ein Fluss,
    Styx fließt über Gebein.
    Wir fließen wie das Wasser
    Und schäumen wie Wellen, so hoch.
    Hoch, hoch!
    Ja, wir fließen wie das Wasser;
    Und bringen auch euch noch den Tod.
    Gleichwie der stete Tropfen
    Höhlet den harten Stein.
    Stein, Stein!
    So harren wir Tausende Jahre
    Euch Männern, und schonen nicht ein’ .
     
    Als Zoe an diesem Abend hinausging, wurde sie von einer Gestalt auf der Treppe erwartet. Überrascht und erschrocken trat sie einen Schritt zurück – im ersten Augenblick hatte sie die breiten, kantigen Schultern und das wirr auf die Schultern fallende, blond durchsetzte Haar nicht erkannt. Kurz bevor die Gestalt ihr das Gesicht zuwandte, realisierte sie, wer es war. Im Profil konnte sie in ihm den Jungen sehen, der er einst gewesen war – die lange gerade Nase, von der sich die sonnenverbrannte Haut schälte, die fein geschnittenen, hohen Wangenknochen, das vertraute Blau seiner Augen. Und dann sah sie das ganze Gesicht, das seit dem letzten Jahr hager und abgespannt geworden war, und die ihr wohlbekannte Narbe, die von der Stirn bis zum Wangenknochen verlief. Zoe fiel auf, dass Will, obwohl er eine Stufe unter ihr stand, größer war als sie.
    Einen Moment lang erwiderte er ihren Blick und Zoe wagte schon zu glauben, er könnte dasselbe denken wie sie. Da öffnete er den Mund und fragte: »Was weißt du über Meerjungfrauen?«
    Diese Frage traf sie so unvorbereitet – und hatte so gar nichts mit ihren eigenen Gedanken gemeinsam –, dass sie sie wie einen tonnenschweren Meteoriten mit Lichtgeschwindigkeit zurück ins Hier und Jetzt katapultierte. Sie schlug in ihre Gedankenwelt ein und Zoe musste unwillkürlich auflachen. »Der Seetang blüht immer grüner …«, sang Zoe wie die draufgängerische Krabbe aus dem Disneyfilm. »… wenn er dich von fern erfreut. Deshalb willst du zu den Menschen, doch –«
    »Ich mein’s wirklich ernst.« Will sah sie mit ungewohnt versteinerter Miene an und Zoe blieben die Worte im Hals stecken.
    »Du meinst es ernst?«, wiederholte sie. Über Meerjungfrauen?, hätte sie beinahe hinzugefügt, doch Wills ernster Gesichtsausdruck hielt sie zurück.
    »Hast du je irgendwelche alten Geschichten hier aus dem Ort gehört?«
    »Aus dem Ort? Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein …«
    »Dir ist da doch gerade etwas eingefallen.« Will trat auf die Veranda und blickte auf Zoe herab. »Was?«
    »Ich kann’s nicht leiden, wenn du meine Gedanken liest.« Sie spürte, wie sie ärgerlich wurde.
    »Nicht deine Gedanken – ich lese es in deinem Gesicht.« Er legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Bitte erzähl es mir.«
    »Na ja, es sind nicht wirklich Geschichten über Meerjungfrauen. Aber ich musste gerade daran denken, was Sally uns so oft erzählt hat.« Sally war früher Zoes Kindermädchen gewesen. Sie war eine Einheimische, deren Familie schon seit Generationen in Shelter Bay ansässig war.
    »Sally«, nickte Will, der sich noch gut an sie erinnern konnte. »Hat deine Angst vor der Bucht etwas damit zu tun?«
    Zoe zuckte nur mit den Schultern. »Mag sein.«
    »Okay, dann schieß mal los.«
    »Sie wollte einfach nicht, dass ich runter

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