Sirenenfluch
gebracht.
»Wir sind hier, weil ich mit jemandem reden muss.«
»Jemand Bestimmtem? Oder einfach … mit irgendjemandem?«
»Mit jemand Bestimmtem.«
»Arbeitet dieser Jemand zufällig im Bella’s?«
Will sah sie scharf an. Zoe hatte sich ihm zugewandt und blickte ihm ins Gesicht. Sie saß in betont lässiger Pose da, den Rücken gegen die Fahrertür gelehnt, wie in einem Couchsessel. Dennoch war sie sichtbar angespannt.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Will.
»Ich weiß auch nicht. Aber es stimmt doch – oder?«
»Ja, du hast recht. Ich muss mit Asia sprechen.«
»Und warum?«
Will seufzte auf. »Wenn ich das nur selbst wüsste.« Er zog ruckartig am Türgriff und stieg aus dem Wagen auf den gepflasterten Gehweg. Zoe kam hinter ihm herausgekrochen und gemeinsam liefen sie die Straße entlang bis zum Diner. Als sie um die Ecke bogen, bot sich ihnen ein seltsamer Anblick. Vor dem Sebastian’s, einer Szene-Bar, hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Im ersten Moment dachte Will, dass sie dort Schlange standen, um in die Bar zu kommen, doch dann bemerkte er, dass die Leute sich nicht etwa vor der Tür drängten, sondern am Straßenrand. Und sie blickten alle hoch – zu einem rotblättrigen Ahornbaum, der von den Straßenlaternen in ein gespenstisches Licht getaucht war.
»Oh Gott!«, entfuhr es Zoe. »Das ist doch schon wieder dieser geisteskranke Kerl.«
Es zitterte im Geäst und dann erblickte Will Kirk, der mit einem Arm den Baumstamm fest umschlossen hielt und mit dem anderen wild herumgestikulierte. »Wir werden alle als Engel geboren!«, hörten sie Kirk schreien, als sie näher kamen. »Doch wir verlieren unsere Flügel. Wir verlieren unsere Flügel und wie sollen wir fliegen, wenn wir unsere Abgründe nicht kennen?« Plötzlich verweilte sein Blick auf Zoe. »Hast du das Bild gefunden? Hast du es dir angesehen?«
Will blickte Zoe an, die stocksteif dastand.
»Hast du die Wahrheit darin erkannt? Du hörst sie auch. Ich weiß genau, dass du sie ebenso hören kannst wie ich.« Kirks Blick war wild und einen Moment lang hatte Will Angst, er würde wie ein Tier vom Baum herunterhüpfen. Schützend legte er einen Arm um Zoe, da kreischte Kirk auf. »Fass sie nicht an!«
Eine Sirene heulte auf und Will zog Zoe weg von diesem Ort. Der Polizeiwagen hielt an und warf rote und blaue Schatten auf die umstehenden Gesichter. Ein uniformierter Polizeibeamter stieg mit Kirks Schwester Adelaide aus dem Auto. Sie war eine junge Frau mit ernstem Gesicht und trug die Haare zu einer perfekten Frisur gestylt, wie man es von einer Friseurin auch nicht anders erwartet hätte. Adelaide sah aus, als würde sie sich am liebsten bei jedem der Anwesenden persönlich entschuldigen, um dann nach Hause zu gehen und dort vor Scham zu sterben. Voller Mitleid sah Will über die Schulter zu ihr hin. Kirk schrie wieder etwas von Engeln, wobei seine Stimme mittlerweile nahezu hysterisch klang. Will fühlte sich, als wäre irgendetwas in seinen Magen gekrabbelt und würde dort hastig sein Nest bauen. Ihm war übel und schwindelig. Was stimmte bloß nicht mit diesem Jungen?
Will spürte, dass Zoe in seinem Arm zitterte. »Was hat er da vorhin gemeint?«, wollte er wissen.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, erwiderte Zoe. Sie war noch nie eine gute Lügnerin gewesen, doch Will drängte sie nicht. »Ich geh mal kurz da rein«, verkündete sie abrupt, als sie sich einem Süßigkeiten-Geschäft näherten. »Ich brauche jetzt unbedingt Schokolade.« Sie stieg die Eingangstreppe hinauf und drehte sich zu Will um. Ihr blondes Haar flatterte im Wind. »Kommst du?«
»Ich warte hier draußen auf dich«, sagte Will.
Zoe verschwand im Innern des Geschäfts und Will lehnte sich gegen die Fensterscheibe. Er verschränkte die Arme vor der Brust und machte sich darauf gefasst, lange warten zu müssen. Zoe stand total auf Süßigkeiten und am liebsten ließ sie sich von jeder der zig Sorten etwas geben. Sie nahm sich stets Zeit, um in aller Ruhe ihre Auswahl zu treffen, und trieb Will damit schier in den Wahnsinn. Mal ganz abgesehen davon, dass ihm nur übel würde, wenn er Süßes auf nüchternen Magen äße. Schon so bewegte er sich diesbezüglich hart an der Grenze.
Genau in dem Moment sah er sie. Asia war auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete Adelaide bei ihrem Versuch, Kirk vom Baum herunterzulocken. Er machte einen Schritt nach vorne und wollte sie gerade rufen, da bemerkte sie ihn. Doch sie drehte sich um
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