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Sirenenfluch

Sirenenfluch

Titel: Sirenenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Papademetriou
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rief nach mir und ich war wie gelähmt. Und doch war ich es nicht, denn meine Füße trugen mich ganz wie von selbst vorwärts. Ich verspürte ein schier überwältigendes Bedürfnis, zu diesem Kind zu gehen. Ich war wie besessen von dem Verlangen, es zu retten, trotz aller Gefahren. Es rief mich und ich wollte zu ihm gehen – ich war wie ein Fluss, der von einer unbändigen Kraft beseelt immerfort in eine Richtung strömt. Ich stand am Rande des Schiffes und stellte mir vor, dass sich das Wasser kühl wie Seide auf der Haut anfühlen würde, und dann kam mir in den Sinn, dass es wie die Innenauskleidung eines Sarges war. Dabei fiel mir auf, dass es nicht etwa die Angst vor dem Tod war, die mich beschäftigte, sondern vielmehr die ewige Ruhe, der Seelentrost. Doch bevor ich den endgültigen Schritt tun konnte, erscholl unter mir ein ohrenbetäubender Lärm. Kurz darauf erschien Akers auf Deck. Seine Handgelenke bluteten und er schleifte eine schwere Eisenkette hinter sich her, an deren Ende Schrauben und Splitter hingen. Er hatte die Eisenkette aus der Wand gerissen. Als er das Mädchen sah, stieß er einen spitzen Schrei aus und sprang über Bord. Und dann wurde er – ich weiß nicht, von wem oder was – in die Tiefe gezogen. Das Geisterkind legte den Kopf auf die Seite und lächelte mich an und ich wollte Akers schon hinterherspringen, wäre es nicht just in dem Moment verschwunden.
    Unter die Wasseroberfläche geglitten wie ein Aal.
    Ich weiß nun, was ich zu tun habe. Ich werde das Steuerruder fixieren, sodass wir unseren Kurs beibehalten. Sodann werde ich mich selbst unter Deck einschließen, um nicht über Bord zu springen. Und beten, dass ich noch am Leben sein werde, wenn wir irgendwann auf Grund laufen. Sollte dies nicht der Fall sein, so grüßt mir meine Frau und meinen Sohn.
    Meine Hoffnung ist dennoch, dass ich in mein Heim zurückkehren und wieder zur Vernunft kommen werde.
     
    Will blätterte noch durch die folgenden Seiten, doch sie waren alle unbeschrieben. Am Ende des Logbuches klemmte zusammengefaltet ein vergilbter Zeitungsausschnitt. Eine kleine Ecke des im Laufe der Zeit spröde gewordenen Papiers löste sich, als Will es auseinanderfaltete und behutsam auf dem Buchdeckel glattstrich. Seine Hände ließ er noch einen Augenblick auf dem Buch liegen, in der Hoffnung, sie würden endlich zu zittern aufhören. Dann las er den Zeitungsausschnitt.
     
    Schiff nahe Shelter Bay auf Grund gelaufen
     
    Gestern wurde nahe dem Hafen von Shelter Bay die auf einer Sandbank gestrandete Eliza Thomas gefunden. Das Schiff liegt zur Hälfte unter Wasser und die Behörden fürchten, dass es sich nur unter Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Kräfte von dort fortbewegen lassen wird. Das Schiff war vor vier Monaten mit acht Matrosen sowie dem Kapitän und seinem ersten Maat an Bord von Portugal aus in See gestochen und befand sich vermutlich auf seinem Weg gen Heimathafen. Im Rumpf des Schiffes lagerten Portwein, Seide und feinste Silberwaren, die allesamt unbeschädigt blieben. Jedoch befand sich keine einzige Seele an Bord. Im Quartier der Matrosen gab es merkwürdige Anzeichen für einen Kampf, so wurde offenbar etwas aus der Wand gerissen, doch abgesehen davon befand sich das Schiff in einem tadellosen Zustand. Das Logbuch des Kapitäns wurde ebenfalls gefunden und die Behörden erhoffen sich hieraus aufschlussreiche Informationen über den Verbleib der Mannschaft …
     
    Will brauchte nicht weiterzulesen – er konnte bereits jetzt mit Sicherheit sagen, dass das Logbuch mehr Fragen aufwerfen als beantworten würde.
    Ist Asia auch eins von ihnen? Eines dieser – Wesen? Dieser Wasserwesen …
    Er blickte aus dem Fenster zum Horizont, wo sich, für seine Augen von hier aus nicht sichtbar, der Ozean erstreckte. Will stellte sich vor, er könnte ihr leises Flüstern hören. Das unaufhörliche Tosen und Schlürfen der Wellen. Mit einem Mal kam ihm das Meer selbst wie eine alles verschlingende Bestie vor. Er war am Wasser aufgewachsen, hatte endlose Stunden damit verbracht, in den Wellen herumzutollen. Ein Sandburgenbauer war er nie gewesen – was möglicherweise der Grund dafür war, dass sein Augenmerk nie auf die zerstörerische Kraft des Wassers gelenkt wurde. Seit dem vergangenen Jahr jedoch fiel es ihm zunehmend schwer, irgendetwas anderes im Meer zu sehen.
    Will durchquerte schnellen Schrittes sein Zimmer. Er zog die unterste Schublade seiner Kommode auf und nahm die Flöte heraus. Dabei fiel ihm

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