Sirenenfluch
Melia am Ufer, ihr Blick war auf ein Schiff gerichtet, das mühsam eine steile Welle erklomm. Unsere Augen können sehr scharf sehen, und so beobachteten wir, wie das Schiff den Gipfel der Welle erreichte und sogleich wieder hinunterfiel. Die nächste Welle war noch größer. Sie baute sich vor dem Schiff auf, das sich gefährlich zur Seite neigte. Dann brach sie mit der Kraft eines mächtigen Berges und ich wusste, dass Melia es ebenso deutlich spürte wie ich – die Angst der Männer, die Panik, die sie angesichts ihres zerberstenden Schiffes ergriff. Wir waren weit von ihnen entfernt, doch ihr Entsetzen wurde über das Wasser zu uns getragen.
Melia war mit einem Satz im Wasser, tauchte unter und verschwand in den Wellen. Ich schwamm ihr nach.
Ganz in der Nähe der Männer tauchten wir wieder auf. Ein älterer Mann klammerte sich mit allerletzter Kraft an einen umhertreibenden Mast. Als er Melia erblickte, wich die Panik in seinen Augen einem nahezu animalischen Ausdruck. Melia wollte ihn packen, doch er schlug wild mit Händen und Füßen um sich, sodass sie schließlich aufgab.
Ein Junge sah mich aus riesengroßen, angsterfüllten Augen an. Seine Schwimmbewegungen glichen denen eines paddelnden Hundes und ich sah ihm an, dass er es nicht mehr lange schaffen würde. Ich packte ihn, während Melia einen Mann ergriff, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser trieb. Ich dachte schon, er sei tot, doch als Melia ihm das blonde Haar aus dem Gesicht strich, sah ich, wie sich seine Augenlider flatternd öffneten und sogleich wieder schlossen.
Die nächste Welle rollte heran, und so nahm ich den Jungen auf meinen Rücken und schwamm mit ihm zum Ufer. Doch der ältere Mann bewegte sich im Wasser laut schreiend auf Melia zu. Er wollte sie am Arm packen, doch stattdessen krallte sich seine Hand in ihren Haaren fest.
Ich rief ihren Namen, doch dann schlug eine Welle über ihnen zusammen und schleuderte den Mann mitsamt dem Mast vorwärts. Der Mast traf Melia am Kopf und ich sah noch, wie sie unterging. Der alte Mann wurde weit weggeschleudert. Im nächsten Augenblick hatte die Welle auch uns erreicht. Ich tauchte unter und schwamm so lange, bis ich die Uferfelsen unter meinen Händen spüren konnte.
Unsereins kann so schnell schwimmen wie ein Delfin. Doch als ich den Strand betrat, fiel der Junge von meinem Rücken herunter. Er war aschfahl im Gesicht, mit einem Stich ins Bläuliche. Kurz stand er reglos da, doch dann fing er an zu würgen, krümmte sich und erbrach Meerwasser – weitaus mehr, als ich bei so einem kleinen Jungen für möglich gehalten hätte. Ich beugte mich helfend über ihn, als er zitterte und schrie und sich wieder und wieder übergeben musste, doch währenddessen sah ich hinaus aufs Meer. Die Welle hatte das Schiff verschlungen. Und ebenso jedes Lebenszeichen von Melia.
Ich kümmerte mich um den Jungen und er vergötterte mich. Ich jagte für ihn Fische und gab ihm die Früchte zu essen, die auf der Insel wuchsen. Ich ließ ihn bei mir wohnen und versorgte ihn, soweit es mir möglich war, mit Arznei. Lange Zeit war er äußerst schwach auf den Beinen. In seiner Hosentasche trug er stets ein kleines Messer mit sich, das bei dem Sturm nicht verloren gegangen war und mit dem er kleine Tiere aus Treibholzstücken schnitzte, die er mir dann schenkte. So schnitzte er mir eine Katze und eine Maus. Einen Fisch. Eine Schlange. Am allerliebsten mochte ich allerdings den kleinen Vogel. All diese Geschenke präsentierte er mir wortlos und blickte mich dabei aus seinen großen dunklen Augen erwartungsvoll an. Er wollte sich mit mir unterhalten, und so lernte ich meine ersten englischen Worte.«
»Entschuldige bitte, dass ich dich unterbrechen muss, aber wie lange ist das her?«
»Zeit spielte damals für mich keine Rolle«, antwortete Asia. »Es war vor über dreihundert Jahren.«
Verblüfft stieß Will zischend die Luft aus. Er wusste selbst nicht, weshalb, doch der bloße Klang dieser Zahl – dreihundert – hielt ihm Asias Alter noch deutlicher vor Augen als zuvor die Erzählungen aus Homers Odyssee. Er machte es greifbarer. Vor dreihundert Jahren. Ihm war schwindelig.
Asia legte den Kopf schief und Will begriff, dass sie die Gefühle spüren musste, die ihn in diesem Augenblick übermannten.
»Ist es nicht sehr kräfteraubend, so lange zu leben?«
Asia schloss die Augen und öffnete sie dann langsam wieder. »Ich weiß es auch nicht. Ich habe doch nie etwas anderes
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