Sirenenlied
den Hals, um zum Fenster hinausschauen zu können. Die Zweige der Trauerweide im Garten rührten sich nicht. Nicht das geringste bisschen. Das konnte nicht sein. Auf den Hebriden ging immer ein Wind, selbst während der wärmsten Sommertage.
Die Augen ihrer Großmutter nahmen einen ängstlichen Ausdruck an, und für einen Augenblick sah sie wie ein Kind aus, das feststellte, dass es ganz allein war. »Es wird einen schrecklichen Sturm geben«, sagte sie kaum hörbar. »Schlimmer als damals, als Ben Galbraith verschwunden ist. Viel schlimmer.«
»Granny, ich hätte dich mit diesem Thema verschonen sollen. Draußen ist es vollkommen windstill, wie kannst du da von einem Sturm reden? Du hast dich überanstrengt.«
»Nein, Kind. Glaub mir, es ist die Ruhe vor dem Sturm. Er ballt sich draußen auf dem Meer zusammen, sammelt seine Kräfte. Dann wird er so überwältigend über uns hereinbrechen, dass nicht jeder es in die Sicherheit seines Hauses schaffen wird. Einer jedenfalls ganz bestimmt nicht, so wie das letzte Mal.«
Wie vor den Kopf geschlagen, stand Eileen da. Dann akzeptierte sie die Worte ihrer Großmutter - bis auf eine Ausnahme. »Dieses Mal wird das Sirenenlied umsonst erklingen. Ich lasse mich doch nicht von ein bisschen Salzwasser in meinem Mund beeindrucken!«
10
Abgründe
Das schlechte Gewissen nagte an Josh, als er langsam die Steilklippe mit seiner Triumph hinunterfuhr. Der Trampelweg war vom nächtlichen Regen aufgeschwemmt und glitschig.
Wärst du ein braver Junge, würdest du jetzt mit Mr. Finebird am Frühstückstisch sitzen und einen Plan schmieden, auf den man bauen kann, strafte Josh sich selbst in Gedanken ab. Stattdessen wirst du dir bei diesem Matsch das Genick brechen. Warum musstest du noch einmal unbedingt aus dem Cottage raus?
Nun, er hatte die steinernen Wände verlassen müssen, weil sie ihm die Luft zum Atmen geraubt hatten. Weil das Torfdach sich unvermittelt auf seinen pochenden Schädel zu senken gedroht hatte. Und vor allem: Weil er die Nähe der Meeresbilder nicht eine Sekunde länger ertragen hatte. Dass draußen unterhalb der Steilklippen das echte Meer unnatürlich sanft gegen die Felsen rollte, war ihm dabei gleichgültig gewesen. Seine angespannten Nerven hatten
ihm gerade einmal zugestanden, Finebird einen hingekritzelten Dank zu hinterlassen, ehe er mit seiner Kleidung unter dem Arm ins Freie gestürmt war. Als er auf seine Maschine gestiegen war, hatte er sich wie ein Gejagter gefühlt. Ein Mann, dem nur noch wenige Minuten zugestanden wurden, bevor das Fallbeil heruntersauste. Nur wie wollte er diese Minuten verbringen?
Das Vorderrad der Triumph glitt auf einem Stein aus, der unter dem Schlamm verborgen war, und schlug zur Seite weg. Zu seinem Glück war Josh langsam gefahren, so dass er sich seitlich abrollen konnte, anstatt unter der Maschine zu landen.
»Mist, verflucht, das war ja klar.«
Mit noch deutlich derberen Schimpfwörtern richtete er sich auf und streckte seinen schmerzenden Rücken durch. Eine kurze Inspektion brachte an den Tag, dass er mit ein paar blauen Flecken, einer aufgeschürften Handkante und einem Schrecken davongekommen war. Mal abgesehen von den verdreckten Jeans und einem klaffenden Riss am Jackenärmel. Als er die Triumph wieder aufstellte, sah er jedoch, dass es sie schlimmer getroffen hatte: Das Vorderrad war übel verdreht. Es würde ein hartes Stück Arbeit sein, das wieder zu reparieren.
»Treuloser Schrotthaufen, dass du auch gerade jetzt verrecken musst«, zischte Josh, dann verschränkte er trotz seiner schmerzenden Knochen die Hände hinter dem Nacken, um seine Brust zu dehnen. Luft, er brauchte dringend mehr Luft. Seit der Wind sich gelegt hatte, schien es einfach nicht mehr genug davon zu geben. Trotzdem gelang es ihm nach und nach, seine Fassung in dieser unnatürlichen Stille zurückzugewinnen.
Zum ersten Mal, seit er den Schemen zwischen Finebirds
Bildern gesehen hatte, konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen.
»Okay, fassen wir das kurz einmal zusammen«, sagte er laut, als befürchte er, unausgesprochen könnten sich die Worte sofort wieder verflüchtigen. »Du sitzt auf einer Insel und wartest darauf, dass eine Sirene auftaucht, um dich in ihr Wasserreich mitzunehmen - ungeachtet der Tatsache, dass du mit dem Atmen unter Wasser ein paar Probleme hast. Eine Fährfahrt rüber aufs Festland wäre vielleicht keine schlechte Idee. Reicht ja auch, wenn ich mich der Sirene im nächsten Jahr stelle.«
In diesem
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