Sirenenlied
Moment durchbrach ein tiefes Grollen die Stille.
Langsam, als wappne er sich gegen einen bevorstehenden Angriff, drehte Josh sich um. Draußen über dem Meer zogen sich die Wolken zu tiefgrauen Türmen zusammen. Im Gegensatz zu den sanft auslaufenden Wellen sah das Wasser auf der offenen See alles andere als ruhig aus: aufgewühlt und schäumend. Obwohl es auf diese Entfernung eigentlich unmöglich sein sollte, glaubte Josh, Bewegungen in der Tiefe des Meeres wahrzunehmen. Wie Blitze schossen helle Leiber dort umher, umkreisten sich wie bei einem Tanz. Sirenen, die im Fluss der Magie schwelgten. Noch gab es keinen anderen Vorboten des Unwetters als das Geräusch, wenn sie einander streiften. Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis sie ihre ganze Macht über dem Atlantik entladen würden.
Wenn nur der Wind weiterhin ausblieb, würde dieses kolossale Unwetter vielleicht weit draußen vor den Inseln ausbrechen. Doch irgendwie glaubte Josh nicht daran. Die sich anstauende Energie durchzog die Luft und zauberte ihm eine Gänsehaut. Sämtliche Haare an seinem Körper
richteten sich auf... und nicht nur die, wie er gereizt bemerkte.
»Die Fährfahrt kann ich mir wohl abschminken, heute wird kein Schiff mehr gehen.«
Vielmehr sah es danach aus, als öffneten sich jeden Augenblick die Pforten der Hölle, nur dass anstelle von Feuer und Asche Wasserfluten die Hebriden überrollen würden.
Während Josh sich damit abfand, dass ein Fluchtversuch nicht zur Debatte stand, ging er auf den Rand der Steilklippe zu. Es war schließlich sinnlos, vor etwas Unausweichlichem davonzulaufen. Zum ersten Mal in seinem Leben stand er aufrecht direkt an der Abbruchstelle, denn sonst war wegen des Windes stete Vorsicht geboten. Jetzt ging nicht einmal ein Lüftchen, und auch von der gewöhnlichen Geräuschkulisse war nichts zu vernehmen. Kein einziger Seevogel war zu hören, geschweige denn zu sehen, obwohl sie ansonsten zu jeder Tageszeit ihre Runden flogen.
Neugierig linste Josh über den Abgrund.
In Richtung Hafen gab es einen schmalen Streifen Strand, aber an dieser Stelle brach die Klippe senkrecht gut und gern zwanzig Meter in die Tiefe ab und mündete direkt im dunklen Wasser. Wenn man Cragganmore Island mit dem Schiff umfuhr, sah man, dass das rötlichbraune Gestein von unzähligen horizontalen Linien übersät war, als hätte jemand die verschiedensten Wasserstände eingemeißelt. Auf einem Schulausflug hatte ihnen der Lehrer erklärt, wie diese Linien zustande kamen, aber Josh konnte sich in diesem Moment nicht mehr entsinnen.
Ob es wohl in der Macht einer Sirene steht, das Meer bis hier oben schlagen zu lassen? Wohl kaum. Also werde ich
springen müssen, dafür wird sie sorgen. Und es wird ihr bestimmt nicht schwerfallen.
Bevor ihn der Galgenhumor übermannte, hörte Josh, wie sein Name gerufen wurde. Allerdings aus einer anderen Richtung als vermutet, nämlich vom Inselinneren her.
Instinktiv zog Josh die Schultern hoch und drehte sich um. Wie es schien, hatte er jegliches Zeitgefühl beim Blick von den Klippen verloren. Jedenfalls konnte er nicht sagen, wie lange er einfach nur so dagestanden war. Sein Stiefelabsatz hing plötzlich im Freien, und erst jetzt wurde ihm klar, wie dicht er an der Abbruchstelle stand: idiotisch dicht. Ja, es würde der Sirene keinerlei Mühe abverlangen, ihn ins Wasser zu locken. Vielmehr war er - dank seiner Dummheit - kurz davor, ohne weiteres hineinzustürzen. Umgehend sah er zu, dass er ein paar Meter Abstand zwischen sich und den Abgrund gewann, in dem der dunkle Meeresspiegel lauerte.
Unterdessen war Eileen so nah zu ihm aufgeschlossen, dass er die Schweißperlen auf ihrer Stirn sehen konnte. Ihre Locken wippten aufgeregt, weil sie so schnell lief. Und das war ganz schön schnell für den unebenen Grund, wie Josh fand.
»Ho, ho, ho.« Josh hob die Hände, als wäre die junge Frau ein Pferd, das durchging.
Doch Eileen scherte sich nicht darum. Schnaufend hielt sie vor ihm an, holte ein paarmal kräftig Luft, dann packte sie ihn bei seiner Jacke und zerrte ihn mit ihrer typischen Entschlossenheit einige Schritte hinter sich her, bis ihr der Abstand zum Abgrund ausreichte.
»Was machst du bitte schön hier oben auf der Steilklippe, du Hornochse?«, herrschte sie ihn mit atemloser Stimme an.
»Die Aussicht bewundern«, gab Josh zurück, der der Situation durchaus etwas Komisches abgewinnen konnte. Er war unendlich froh darüber, sie zu sehen, mehr als er sich eingestehen
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