SISSI - Die Vampirjägerin
viele.« Sissi scheute davor zurück, keinen einzigen zu sagen, obwohl es die Wahrheit gewesen wäre. »Ich musste fast immer üben, und wenn nicht, wurde ich unterrichtet. Die Lehrer kamen zu uns ins Haus.«
»Lehrer der Kinder Echnatons?«
»Natürlich.«
Franz-Josef schwieg. Sissi dachte daran, was sie gelernt hatte: Lesen, Schreiben, ein wenig Rechnen und Unmengen von Fakten über Vampire und wie sie die Welt beherrschten. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, sie mit den Nachbarskindern spielen zu lassen. Sie sehen die Welt nicht so wie du, hatte ihr Vater einmal gesagt. Du kannst ihnen nicht trauen, nur uns und deinen Geschwistern.
»Wieso bist du plötzlich so still?«, fragte Franz-Josef.
Sie schüttelte den Gedanken ab. »Es ist nichts.«
Sissi befürchtete, dass er nachfragen und sie dazu bringen würde, sich noch einmal den Fragen zu stellen, die sie so lange verdrängt hatte, aber er blieb stattdessen stehen und hob die Hand.
»Da sind Menschen«, sagte er.
Sissi duckte sich unwillkürlich. Sie folgte Franz-Josef weiter den Pfad entlang. Nach ein paar Schritten duckte er sich ebenfalls, bis er hinter dem Gestrüpp nicht mehr zu sehen war.
»Vorsicht, das sind mindestens ein Dutzend«, flüsterte er.
Einige Meter weiter endete der Pfad an einer Lichtung. Sissi sah einen gespaltenen, toten Baum, in den vor langer Zeit einmal der Blitz eingeschlagen haben musste, und hinter Sträuchern verborgen das halb eingestürzte Dach eines Hauses. Geschwärzte Balken ragten aus der Ruine auf.
Im ersten Moment hielt Sissi die Menschen, die zwischen Mauerresten und Trümmern hockten, für Büsche, doch dann bewegte sich einer von ihnen. Er kroch zu einem Baum und begann in der Erde zu scharren. Die anderen reagierten nicht darauf. Niemand sprach.
»Etwas stimmt nicht mit ihnen«, flüsterte Sissi. »Spürst du das auch?«
Franz-Josef nickte. In der Dunkelheit war sein Gesicht nur ein verschwommener heller Fleck.
Sissi richtete sich auf und ging auf die Ruine zu.
»Was tust du?«, flüsterte Franz-Josef hinter ihr, aber sie ignorierte ihn.
»Bonsoir«, sagte sie laut.
Einige Köpfe hoben sich beim Klang ihrer Stimme. Sissi blickte in offene, lächelnde Gesichter. Die meisten Menschen trugen gute, teure Kleidung, waren wohl einmal Händler und Großbauern aus der Umgebung gewesen. Nun hockten sie am Boden und gruben im Dreck nach Wurzeln und Würmern.
Sissi drehte sich um, als Franz-Josef neben sie trat. »Sind sie betört worden?«
Er kniff die Augen zusammen, musterte jeden Einzelnen von ihnen. Dann runzelte er die Stirn. »Ja, aber nicht so, wie ich es könnte. Das hier ist anders.« Er suchte nach den richtigen Worten. »Ihnen wurde der Verstand nicht vernebelt, sondern genommen, Sissi. Sie werden ewig so bleiben.«
Sie wollte ihm nicht glauben. Auch Kinder waren unter den Menschen. »Woher willst du das wissen?«
»Ich spüre es. Sie sind leer.«
Leer. Das Wort entsetzte sie. Langsam ging sie auf die Ruine zu, vorbei an den Menschen am Boden, die sie nicht länger beachteten.
Franz-Josef fasste sie am Arm. »Sei vorsichtig. Komm ihnen nicht zu nahe.«
Steine knirschten unter ihren Sohlen, als sie die Ruine betrat. Sie sah einen Mann und eine Frau in einer Ecke, die auf altem Laub miteinander schliefen. Es stank nach Kot. Sissi würgte und hielt sich den Kragen ihres Umhangs vor Mund und Nase.
Die Wände und die Decken des verfallenen Hauses waren geschwärzt. Es musste irgendwann abgebrannt sein, vielleicht an dem Tag, an dem ein Blitz das Leben des Baums vor dem Eingang beendet hatte.
Franz-Josef wandte sich nach rechts, sie nach links. In einem kleinen Zimmer, das früher vielleicht einmal eine Abstellkammer oder dergleichen gewesen war, hockten drei Frauen am Boden. Lächelnd scharrten sie mit den Fingern in einem Spalt zwischen den Dielen. Als eine von ihnen nach einer Kellerassel griff, wandte Sissi sich ab.
Oh Götter, dachte sie.
»Sissi?«
Sie folgte dem Klang von Franz-Josefs Stimme. Der Gang, den er genommen hatte, führte in einen besser erhaltenen Teil des Hauses. Durch eine offen stehende Tür konnte Sissi Tische sehen, auf denen Werkzeug und Instrumente lagen. In einer Ecke stand ein Mikroskop neben einer Öllampe.
»Sieh dir das an.« Franz-Josef hob ein großes, fest verschlossenes Einmachglas hoch. Augäpfel schwammen darin. »Ich glaube, einer davon gehört Sophie.«
Sissi hätte sich beinah übergeben. Mühsam schluckte sie
Weitere Kostenlose Bücher