SISSI - Die Vampirjägerin
seinem Tod.«
Er setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe des Kamins. »Jemand muss ihn jahrelang so gehalten haben, bis er entkam oder freigelassen wurde.«
»Nur um zu sterben.« Der Gedanke stimmte Sissi traurig.
»Er wäre sowieso gestorben. Selbst wenn man sehr vorsichtig ist, kann man einen Menschen nicht unbegrenzt betören. Das zerstört den Verstand.«
»Wirklich? Und was ist mit dem Personal in der Hofburg?« Sissi dachte an den Jungen, der ihr den Weg zum Ballsaal gezeigt hatte. Weder er noch die anderen hatten es verdient, den Verstand zu verlieren, nur weil sie am falschen Ort arbeiteten.
»Das sind nur kleine Eingriffe. Ich rede davon, jemandem eine andere Umgebung vorzuspiegeln, ein Leben, das es gar nicht gibt.«
So wie bei den beiden Mädchen, die die wilden Vampire festgehalten haben, dachte Sissi. Franz-Josef hatte recht. Der verwahrloste Mann erinnerte sie an die beiden.
»Er kann nicht weit gekommen sein, so ausgemergelt, wie er war«, sagte sie und zog den Umhang, den sie hatte ablegen wollen, wieder um die Schultern. »Lass uns nachsehen. Vielleicht finden wir ja etwas.«
»Wir? Jetzt?«
»Warum nicht?« Sie sah ihm an, dass er am liebsten allein aufgebrochen wäre, auch wenn er es nicht aussprach.
»Also gut«, sagte er nach einem Moment.
Der Tote war bereits weg, als sie zu der Stelle zurückkehrten, wo sie ihm begegnet waren. Auch die Menge hatte sich aufgelöst. Die Passanten, die nun an ihnen vorbeischlenderten, ahnten wohl nicht, was sich weniger als eine halbe Stunde zuvor auf der schmalen Allee zugetragen hatte.
»Riechst du ihn noch?«, fragte Sissi.
Franz-Josef sah sie an. »Ich bin kein Hund.«
Der Hunger schien seine Laune zu beeinträchtigen. Sissi hob die Schultern. »Entschuldige.«
Das Licht der Gaslaternen blieb hinter ihnen zurück, als sie die Allee verließen und in die Richtung gingen, aus der der Unbekannte gekommen war. Schmale Wege führten durch Kräuter- und Gemüsegärten. Bohnenstangen ragten hinter Hecken hervor.
Sie trafen nur einen alten Mann, der eine Schubkarre mit Kohlköpfen vor sich herschob. Franz-Josef fragte ihn, ob er etwas gesehen habe, worauf der Bauer wortlos den Weg hinunterzeigte.
Nach einer Weile wurde aus den Gärten unbebautes Brachland. Es war eine sternklare Nacht und in ihrem Licht erkannte Sissi Gestrüpp und hohes Gras. Der Weg führte noch einige Meter zwischen Sträuchern hindurch, dann endete er im Nichts.
»Das war früher alles Sumpf«, sagte Franz-Josef. »Erstaunlich, wie viel sich in so kurzer Zeit verändert hat.«
Das sind über sechzig Jahre, dachte Sissi. Ein ganzes Menschenleben.
»In relativ kurzer Zeit«, fügte Franz-Josef nach einem Moment hinzu, als sei ihm klar geworden, wie der Satz für Sissi klingen musste, »geschichtlich betrachtet.«
»Schon gut.« Sissi lächelte. »Ich weiß, dass ich nicht so lange leben werde wie du. Das ist kein Geheimnis.«
»Wir werden sehen.« Mehr sagte Franz-Josef dazu nicht.
Er ging voran, führte Sissi durch das hohe Gras, warnte sie, wenn Wurzeln aus dem Boden ragten oder Dornenranken ihrer Kleidung drohten. Irgendwann wurde es unter ihren Schritten feuchter. Pfützen funkelten im Sternenlicht.
Franz-Josef blieb stehen. »Du hast ihn berührt«, sagte er. »War er nass?«
»Nein.«
»Dann ist er nicht durch die Sümpfe gelaufen.« Er kehrte um und führte Sissi zurück, bis der Boden unter ihren Füßen wieder trocken war. »Wenn wir nach rechts gehen, kommen wir zurück in die Stadt. Ich weiß nicht, was links von uns liegt. Als Kind bin ich nie weiter als bis hierher gekommen.«
Sissi versuchte, ihn sich in seiner Kindheit vorzustellen. »Hast du mit deinen Freunden den Sumpf erkundet?«
»Mit meinen Soldaten.« Franz-Josef bog die Zweige eines Dornenbuschs zur Seite und ließ Sissi vorgehen. »Ich wurde rund um die Uhr bewacht.« Er sah zur Seite. »Hier ist ein Pfad.«
Der Pfad war gerade so breit, dass sie nebeneinanderher gehen konnten. Auf beiden Seiten wuchs dichtes Gestrüpp. Sissi konnte sich nicht vorstellen, dass der alte Mann die Kraft gehabt hatte, sich einen Weg quer hindurch zu bahnen. Wenn er aus dieser Richtung gekommen war, dann musste er den Pfad benutzt haben.
»Das klingt einsam«, sagte Sissi.
Franz-Josef schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Ich war immer mit anderen zusammen und die Soldaten drückten bei vielem beide Augen zu.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Aber ich wette, dass du viele Freunde hattest.«
»Nicht so
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