SISSI - Die Vampirjägerin
Franz-Josef erinnerte sich an die Geschichten, die alte Vampire über nächtelange Hetzjagden im Wald erzählten. Noch im Spätmittelalter hatten sie dabei gleich Dutzende erlegt, später nur noch einzelne und in den letzten Jahrzehnten keine mehr.
»Das dachten wir alle«, sagte Karl. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. »Alle außer Sophie.«
Sie erwiderte nichts darauf, sondern drehte nur stumm den blutbefleckten Teelöffel zwischen den Fingern. Dann erhob sie sich plötzlich.
Franz-Josef sprang auf, ebenso Karl. Man blieb nicht sitzen, wenn Sophie stand.
»Es war richtig, zu mir zu kommen, Franzl«, sagte sie, während sie sich bereits ihrer Schlafzimmertür zuwandte. »Gute Nacht.«
Franz-Josef neigte den Kopf. »Schlafen Sie gut, Sophie.« Er wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann sah er Karl an. »Was hat das zu bedeuten? Kehren die wilden Vampire zurück?«
»Sophie sagt mir auch nicht alles. Warte ab. Sie wird dich schon noch einweihen.« Karl läutete die kleine Glocke, die auf dem Tisch stand.
»Haben wir auch etwas ohne Chinesen?«, fragte er.
Der Diener nickte und verschwand hinter dem Vorhang.
Franz-Josef trank seine Tasse aus. »Wir sehen uns morgen auf dem Ball, Karl. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Er legte bereits die Hand auf die Klinke, als ihm ein Gedanke kam. »Haben die menschlichen Diener schon angefangen, den Saal zu schmücken?«, erkundigte er sich.
Karl schüttelte den Kopf. »Die kommen erst bei Tageslicht.«
Franz-Josef runzelte in gespielter Verwirrung die Stirn. »Wieso habe ich dann eben Stimmen im Saal gehört?«
»Verdammter Mist.« Karls Augen weiteten sich. Dann wandte er den Kopf zum Schlafzimmer. »Sophie!«
Franz-Josef verließ den Salon und machte sich pfeifend auf den Weg zu seinen Gemächern. Erst als er den zusammengeknüllten Zettel neben seinem Bett liegen sah, fiel ihm ein, dass er sich seiner zukünftigen Braut nicht vorgestellt hatte.
Was soll’s, dachte er mit erzwungener Leichtigkeit. Ich werde sie ja sowieso nicht heiraten.
KAPITEL ELF
Die Schätzungen darüber, wie viele Vampire es tatsächlich in Europa gibt, gehen weit auseinander. Manche sprechen von fünfhundert, andere von fünftausend oder sogar fünfzigtausend. Es ist ein Geheimnis, dass die Vampire mit solchem Argwohn hüten, dass sie es selbst unter der Folter nicht preisgeben.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Mutter, sitzt mein Kleid auch?«
»Dreh dich mal um. Nein, nicht so schnell.«
Sissi saß auf der Treppe des Gästetrakts und sah zu, wie ihre Schwester und ihre Mutter sich gegenseitig in den Wahnsinn trieben. Viermal hatte Néné sich bereits umgezogen, einmal sogar Sissi gezwungen, das Kleid, das sie ihr geliehen hatte, wieder auszuziehen, weil sie es selbst anprobieren wollte.
Entschieden hatte sie sich, wenn die Entscheidung denn nun tatsächlich nach nur zwei Stunden gefallen war, für ein fliederfarbenes Ballkleid mit dazu passenden Schuhen. Sissi hatte ihr etwas schlichteres weißes zurückbekommen.
»Ich habe Hunger«, sagte sie, aber niemand hörte ihr zu. Prinzessin Ludovika steckte Néné zum wiederholten Male die Haare hoch, zerrte und zog an ihr und trat schließlich einen Schritt zurück.
»Das muss reichen«, sagte sie. »Wir kommen sonst zu spät.«
»Sehe ich denn gut aus?«, fragte Néné.
»Du siehst aus wie die Braut eines Kaisers«, sagte Sissi, bevor ihre Mutter sie weiter verunsichern konnte, und stand auf. »Lasst uns gehen.«
Néné blieb unschlüssig stehen. »Vielleicht sollte ich noch einmal das rosa Kleid …«
»Nein«, unterbrach Prinzessin Ludovika sie. »Komm jetzt.«
Es fiel Sissi schwer, in dem unförmigen Ballkleid die Treppe zum Eingang hinunterzusteigen. Sie konnte ihre Füße nicht sehen und musste sich jede Stufe ertasten. Néné und ihre Mutter schienen damit keine Probleme zu haben. Mit der Eleganz von Balletttänzerinnen glitten sie die Stufen hinunter. Während Sissi gelernt hatte, einen Beidhänder zu halten, hatte ihre Mutter Néné beigebracht, sich in solchen Kleidern zu bewegen.
Wir haben beide unsere Rollen zu spielen, dachte Sissi.
Die Diener, die an der geöffneten Eingangstür standen, verneigten sich vor ihnen.
»Er möge eine Kutsche holen«, sagte Prinzessin Ludovika zu dem älteren der beiden, »und sich damit beeilen.«
»Jawohl.« Der Mann trat auf den Hof und pfiff einmal laut.
Sissi sah zum hell erleuchteten Eingang der
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